Aufstand der Ostslawen 1939, Teil II

Der Aufstand und die jüdische Bevölkerung

Von Holger Michael

Im heutigen Polen wird der ostslawische Aufstand meist den Juden zugeschrieben. Der ostslawischen Charakter dieser Gebiete wird ignoriert und in bekannter antisemitischer Manier werden Juden als umstürzlerisch und verräterisch diffamiert. Die Tatsachen bieten jedoch ein völlig anderes Bild:

In Ostpolen lebten zu über 80 Prozent Bauern. Hier befand sich nur 7 Prozent der polnischen Industrie, die Bevölkerung verdiente weniger als ein Zehntel des polnischen Durchschnittsgehaltes, die Hälfte konnte weder lesen noch schreiben. Zwischen den Fronten des nationalen und sozialen Befreiungskampfes der ostslawischen Mehrheit standen die Juden, die 10 Prozent der Bevölkerung ausmachten.

Juden waren im Gegensatz zur Bevölkerungsmehrheit eher staatstreu, Händler und Handwerker, und lebten vor allem in Städten. Dort bildeten sie die überwiegende Mehrheit, teilweise bis 92 Prozent. Sie galten als Stamm der Stadtarmut, lebten meist nicht besser als ansässige arme Bauern, die ihnen gegenüber oft nicht wohlgesonnen waren. Sie waren aber – auch im Vergleich zu den Polen – gebildet, sprachen Polnisch, Russisch, Jiddisch und Hebräisch, besuchten in der Regel die Schule. Ihre Intelligenz, die dazu noch Deutsch oder Französisch sprach, war vor allem im privaten Schulwesen und den 15 Vereinen für Bildung, Kultur und Sport sowie in religiösen und politischen Organisationen beschäftigt.

Politische Orientierung der jüdischen Bevölkerung

Die jüdische Gesellschaft war politisch sehr aktiv, wenngleich sehr zersplittert. In den jüdischen Religionsgemeinschaften, die auch administrativen Charakter trugen und staatliche Ansprechpartner waren, rangen verschiedene legale jüdische politische Gruppierungen um Macht und Einfluss.

Hauptkonkurrenten waren die Konservativ-Klerikalen und die verschiedenen Zionisten. Im dafür repräsentativen Podlasien, der größten östlichen Wojewodschaft (Verwaltungsbezirk), war der Einfluss wie folgt verteilt: Konservative 10 Prozent, nicht-zionistische Sozialisten 5 Prozent, Zionisten 85 Prozent (religiöse 11 Prozent, bürgerliche 3 Prozent, rechtssozialistisch 21 Prozent, linkssozialistisch 5 Prozent und rechtsextremistisch 47 Prozent). Alle standen loyal zur Staatsmacht, waren antikommunistisch und antisowjetisch eingestellt. Eine gewisse Ausnahme machten die zionistischen Linkssozialisten.

Die überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung wählte also stramm antikommunistisch und antisowjetisch. Das kam auch bei den Parlamentswahlen zum Ausdruck. 1922 wählten sie vor allem den bürgerlichen Block Nationaler Minderheiten, dem aber auch bürgerliche Belorussen und Ukrainer angehörten. 1928 votierten sie uneinheitlich: Der Block errang nur 7 Prozent, dafür die gegen die polnischen Nationalisten auftretende Regierungspartei 29 Prozent. Damit hatten die Juden wesentlichen Anteil an der Stärkung des bürgerlichen Lagers (insgesamt fast 40 Prozent).

Die prosowjetischen Orientierungen kamen aus dem linken Spektrum, die in Ostpolen zeitweise stärker als anderswo waren.

Die am besten organisierte Partei waren die Kommunistischen Parteien Westbelorusslands und der Westukraine, die illegal und trotz permanenter Verfolgung über großen Einfluss verfügten. Unter ihnen gab es auch 10 Prozent Juden, etwa 400 Genossen, die in vielen Städten, wo Juden ohnehin konzentriert waren, in den Leitungsfunktionen leicht gegenüber den Belorussen, Ukrainern und wenigen Polen überwogen. Diese hatten aber mit der jüdischen Gesellschaft gebrochen und waren Atheisten.

Die Juden und der Aufstand

Die Mehrheit der Juden verhielt sich der polnischen Staatsmacht gegenüber loyal. Ihnen, auch eingedenk ihrer streng bürgerlichen Ideologie, einen prosowjetische Orientierung anzudichten, ist antisemitische Verleumdung.

Dennoch hatte diese politisch höchst interessierte und auch über entsprechende Informationen aus dem sowjetischen Rundfunk verfügende Gesellschaft zur Sowjetunion zwar eine prinzipiell ablehnende, doch differenzierte Haltung. Ihre Haltung zu den Sowjets war weitaus positiver als gegenüber dem Zarismus. Die Rote Armee hatte sich 1919/20 ihnen gegenüber korrekt benommen, es gab keine Pogrome oder Plünderungen. Die gab es erst wieder, nachdem die ostslawischen Gebiete unter polnische Kontrolle genommen wurden. So überfielen junge polnische Nationalisten jüdische Verkaufsstellen, erst 1937 hatte es in Brest ein antijüdisches Pogrom gegeben. In der UdSSR waren viele Juden in staatlichen Funktionen, darunter auf höchster Ebene, während in Polen nur ein Prozent Juden im Öffentlichen Dienst angestellt waren. Auch die einheimischen Kommunisten und ihre Organisationen bekämpften den Antisemitismus. Zugleich war ihnen über ihre Verwandtschaft bekannt, dass die Sowjetmacht gegen bürgerliche Kräfte und ihrer Besitz kompromisslos vorgegangen war. Ein Teil ihrer nicht-zionistischen Jugend und jüdische Arbeitslose sahen in einer sowjetischen Perspektive hingegen durchaus die Möglichkeit persönlicher Emanzipation.

Der Nachricht vom sowjetischen Einmarsch in Ostpolen folgte ein Aufstand und es waren Belorussen und Ukrainer, die ihn führten. Nur sie verfügten über Erfahrungen in Krieg, Partisanenkampf und im Umgang mit Waffen. Juden waren davon ausgeschlossen. Zudem fanden auch die meisten Aktivitäten in den Dörfern statt, wo Juden nur 3 Prozent der Bevölkerung ausmachten und ihre Nähe zu polnischen Gutsbesitzern sie zu äußerster Zurückhaltung zwang. An diesen – teilweise blutigen – Auseinandersetzungen nahmen sie nicht teil.

Nicht anders sah es in den Städten aus: Auch hier waren es in erster Linie Belorussen, Ukrainer und arme Polen, die oftmals aus den Dörfern kamen und den Aufstand anführten. Sie bildeten rote Milizen und Revolutionskomitees und wurden von Linken geführt. Juden gab es hier nur wenige, meist waren sie arm. In den Revolutionskomitees waren vereinzelt auch Juden anzutreffen, da die Städte ohnehin zumeist von Juden bewohnt waren.

Die polnischen Rechten werfen Juden vor, die Rote Armee begrüßt zu haben. Wer hätte sie auch sonst begrüße können, die Mehrheit der Stadtbevölkerung war schließlich jüdisch. Es ist davon auszugehen, dass in diesen verschlafenen Städtchen die reine Neugier die Menschen auf die Straßen trieb – sie bekamen erstmals einmalige Militärtechnik zu sehen. Dass ein sehr geringer Teil der Juden die Sowjets als Befreier sah und sie mit Blumen und Triumphbögen begrüßte, ist eine verständliche Tatsache. Für die meisten hingegen war das eine traditionelle Handlung den neuen Herrschenden gegenüber. So wurde es nicht nur hunderte von Jahre lang praktiziert, sondern auch knapp 20 Jahre zuvor, als offizielle jüdische Vertreter den Führer der polnischen Armee, Józef Piłsudski, in Ostpolen mit Brot und Salz begrüßt hatten.

Nach dem Aufstand bekamen viele Juden vor allem wegen ihrer Bildung Funktionen in der neuen Verwaltung, in der auch über 50 Prozent Polen arbeiteten. Die polnischen Rechten sehen darin bis heute einen Verrat.

Die Sowjetunion deportierte aus den befreiten Gebieten 83 000 Juden als Vertreter der bürgerlichen Klasse ins Innere der Sowjetunion. Diese stellen 75 Prozent der polnischen Juden, die den Holocaust überlebten.

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"Der Aufstand und die jüdische Bevölkerung", UZ vom 27. September 2019



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