„Die Arbeitgeber haben heute die Chance, am Verhandlungstisch ihre Blockade ernsthafter Verhandlungen zu beenden und tarifpolitische Verantwortung zu übernehmen. Dies verlangt auch die Bereitschaft, signifikant auf unsere Forderung nach 8 Prozent auf 12 Monate zuzugehen. Ob dieser Schritt gelingt, wird darüber entscheiden, ob ein Großkonflikt vermieden werden kann“, sagte Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, auf einer Kundgebung am Tag des Tarifabschlusses. Ist die Vermeidung eines „Großkonfliktes“, eines unbefristeten Streiks im Interesse der Gewerkschaften? Im ersten Moment könnte man angesichts der sich dann leerenden Streikkassen darüber nachdenken. Aber schon die mobilisierende Wirkung von Arbeitskämpfen, die spürbare Notwendigkeit von Organisierung für die Arbeitenden, sollte jeden Gewerkschafter zu einem Freund von Streiks machen. Hofmann argumentiert nicht im Sinne der Arbeiterklasse, sondern im Interesse ihres Klassenfeinds. Für die Arbeiterklasse sind Streiks unverzichtbar. Diese Schlussfolgerung war das Ergebnis einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung, bei deren Titel man nicht sofort auf diesen Zusammenhang kommt.
Am letzten Oktoberwochenende trafen sich in Frankfurt am Main zwei Dutzend Marxistinnen und Marxisten ganz unterschiedlicher Altersgruppen und Berufe, um sich zwei Tage lang mit dem „Menschenbild im Klassenkampf“ zu befassen. Das wirkt angesichts der dramatischen Zeiten des Ukraine-Krieges, der Klimakatastrophe, der Inflation und der beinharten Tarifkämpfe vielleicht wie ein übertriebener Luxus oder gar wie eine Flucht aus der Gegenwart. Das ist aber nicht so.
Einzelwesen oder „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“?
Karl Marx befasste sich schon sehr früh – noch bevor er sich in die Politische Ökonomie vertiefte – mit der Frage, was den Menschen zum Menschen macht. In seinen im Frühjahr 1845 verfassten „Thesen über Feuerbach“ – da war er noch keine 30 Jahre alt – schrieb er: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ Instinktiv kämpfen alle reaktionären Ideologen und politischen Kräfte gegen diese Einsicht und versuchen mit ihrer ganzen Medienmacht den Menschen einzutrichtern, sie seien ein der übrigen Gesellschaft gegenüberstehendes Einzelwesen mit ganz besonderen Eigenschaften, die sie im Wettbewerb mit anderen ausprägen müssten, um erfolgreich zu sein. Dies geht bis zu dem bis heute gültigen Glaubensbekenntnis aller bürgerlichen Liberalen, Konservativen und Reaktionäre, das die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher – zitiert nach der „Financial Times“ vom 18. April 2013 – in den Satz kleidete: „So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht.“
Dieses Bild des vereinzelten, jedes für sich und gegen alle anderen kämpfenden Individuums – bestenfalls noch eingebettet in die eigene Familie – hat für das Kapital große Vorteile: Im Konkurrenzkampf gegen alle anderen können sich die Unternehmer die billigsten und zugleich willigsten Arbeitskräfte aussuchen, um sie für ihren Reichtum arbeiten zu lassen.
Die fundamental unterschiedliche Sichtweise des bürgerlichen – also auf das Individuum fixierten – und des sozialistischen – also das Individuum als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ begreifenden – Menschenbildes hat aber noch weit tiefergreifende und aktuellere Konsequenzen.
Kooperation und Konkurrenz
Denn die Kooperation der einzelnen Menschen ist der eigentliche Schlüssel für ihre Fähigkeit, die Schranken der Tierwelt zu verlassen und sich eine ganze Welt neuer Bedürfnisse und Genüsse zu erschließen – und in der Perspektive sich bei fortentwickelter weltweiter Kooperation der Menschheit ein Reich der Freiheit zu erschaffen. Marx schrieb dazu im „Kapital“: „Verglichen mit einer gleich großen Summe vereinzelter individueller Arbeitstage, produziert der kombinierte Arbeitstag größere Massen von Gebrauchswert und vermindert daher die zur Produktion eines bestimmten Nutzeffektes bestimmte Arbeitszeit.“ Die Möglichkeiten, durch verbesserte Kooperation die für die menschliche Reproduktion notwendigen Güter mit weniger Zeitaufwand (und weniger Verbrauch von natürlichen Ressourcen) herzustellen, werden aufgrund des Konkurrenzprinzips im Kapitalismus aber nicht genutzt. Statt Arbeitszeitverkürzung gibt es überlange Arbeitstage und eine Anhäufung potenziell immer nutzloserer Wegwerfartikel, statt mehr Gleichheit gibt es immer mehr Ungleichheit, statt mehr Glück weltweit mehr Elend.
Das jedwede gesellschaftliche Kooperation zerfräsende Konkurrenzprinzip – eines der Lebensgesetze der kapitalistischen Gesellschaft – zerstört nicht nur das individuelle Glück des so voneinander isolierten gesellschaftlichen Wesens Mensch. Es untergräbt zugleich das Gattungsvermögen des Menschen, das eben aus der Kooperation anstelle der Konkurrenz jeder gegen jeden erwächst. Es hemmt damit auch die Fortentwicklung der Produktivkräfte – ablesbar an der nunmehr seit rund drei Jahrzehnten stagnierenden ökonomischen Entwicklung der kapitalistischen Zentren und ihrem relativen Bedeutungsverlust gegenüber solchen aufstrebenden Nationen wie der VR China und anderen.
In der Zeit, als sich der junge Marx noch vor allem mit philosophischen Fragen befasst, wendet sich der in Manchester in der Firma seines Vaters tätige Friedrich Engels der ökonomischen Realität der in den Fabriken schuftenden Arbeiterinnen und Arbeiter zu und fasst seine Beobachtungen und Schlussfolgerungen in dem im Sommer 1845 erschienenen Buch zur „Lage der arbeitenden Klasse in England“ zusammen. Der damals 25-Jährige untersucht darin das Leben der von den Unternehmern wie eine Ware behandelten, zu Hungerlöhnen über zehn Stunden am Tag schuftenden Kinder, Männer und Frauen und schreibt: „Man wird mir zugeben, selbst wenn ich es nicht so oft im einzelnen nachgewiesen hätte, dass die englischen Arbeiter sich in dieser Lage nicht glücklich fühlen können; dass die ihre keine Lage ist, in der ein Mensch oder eine ganze Klasse von Menschen menschlich denken, fühlen und leben kann.“
Dagegen begehrten die Arbeiter auf – zunächst isoliert voneinander, dann aber immer mehr und besser in Kooperation mit anderen, zuvor durch die Kraft der Konkurrenz von ihnen isolierten Mitmenschen – und so diese Kraft der Konkurrenz überwindend. Mensch werden, erkannte Engels, können die Menschen nur in Opposition zu diesen Verhältnissen: „Wenn, wie wir sahen, dem Arbeiter kein einziges Feld für die Betätigung seiner Menschheit gelassen ist als die Opposition gegen seine ganze Lebenslage, so ist es natürlich, dass gerade in dieser Opposition die Arbeiter am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten erscheinen müssen.“
In dem Kapitel „Arbeiterbewegungen“, dem auch die obigen Zitate entnommen sind, zeichnet Engels die Herausbildung der ersten Gewerkschaften und den mühsamen Beginn der ersten – oft mit brachialer Gewalt niedergeschlagenen – Streiks der englischen Arbeiterklasse nach, die nur allzu häufig angesichts der Allmacht des Kapitals und der mit ihm verbündeten Staatsmaschine in Niederlagen endeten, um dann fortzufahren: „Man wird fragen, weshalb denn die Arbeiter in solchen Fällen, wo doch die Nutzlosigkeit der Maßregel auf der Hand liegt, die Arbeit einstellen? Einfach, weil sie gegen die Herabsetzung des Lohns und selbst gegen die Notwendigkeit dieser Herabsetzung protestieren müssen, weil sie erklären müssen, dass sie, als Menschen, nicht nach den Verhältnissen sich zu schicken, sondern dass die Verhältnisse sich nach ihnen, den Menschen, zu richten haben (…) Die Arbeiter müssen dagegen protestieren, solange sie noch nicht alles menschliche Gefühl verloren haben, und dass sie so und nicht anders protestieren, kommt daher, weil sie Engländer, praktische Leute sind, die ihren Protest durch eine Tat einlegen, und nicht wie die deutschen Theoretiker ruhig schlafen gehen, sobald ihr Protest gehörig protokolliert und ad acta gelegt ist, um dort ebenso ruhig zu schlafen wie die Protestierenden.“ (Ebd., S. 435f.)
Das Hohelied auf den Streik, das Engels hier singt, ist damit aber noch nicht zu Ende. Denn im Streik verweigern die Ausgebeuteten nicht nur wenigstens zeitweise den Verkauf ihrer Arbeitskraft als Ware, der den Kern aller ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisse im Kapitalismus bildet. Sie stellen damit praktisch auch die Kooperation – die Klassensolidarität – zumindest zeitweise als Lebensprinzip über die Konkurrenz. So arbeitete sich Engels in Britannien, von der praktischen Beobachtung der dortigen Klassenverhältnisse kommend, zu derselben Erkenntnis durch, zu der Marx in Deutschland von der Philosophie her kommend gelangte, wenn er anschließend an den zuletzt zitierten Satz fortfuhr: „Der tatsächliche Protest des Engländers dagegen hat seine Wirkung, er hält die Geldgier der Bourgeoisie in gewissen Schranken und erhält die Opposition der Arbeiter gegen die gesellschaftliche und politische Allmacht der besitzenden Klasse lebendig (…) Was aber diesen Assoziationen und den aus ihnen hervorgehenden Turnouts (Streiks – M. S.) die eigentliche Wichtigkeit gibt, ist das, dass sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, dass die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht, das heißt auf der Zersplitterung des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen Arbeiter gegeneinander. Und gerade weil sie sich, wenn auch nur einseitig, nur auf beschränkte Weise gegen die Konkurrenz, gegen den Lebensnerv der jetzigen sozialen Ordnung richten, gerade deshalb sind sie dieser sozialen Ordnung so gefährlich. Der Arbeiter kann die Bourgeoisie und mit ihr die ganze bestehende Einrichtung der Gesellschaft an keinem wunderen Fleck angreifen als an diesem. Ist die Konkurrenz der Arbeiter unter sich gestört, sind alle Arbeiter entschlossen, sich nicht mehr durch die Bourgeoisie ausbeuten zu lassen, so ist das Reich des Besitzes am Ende.“
Solidarität – der Streik als Schule des Klassenkampfes
Das „Reich des Besitzes“ an sein Ende zu bringen – dazu, das haben auch Marx und Engels im weiteren Verlauf ihres Lebens lernen müssen, bedarf es noch einiger weiterer Voraussetzungen. Aber die hier dargelegten Erkenntnisse blieben nicht nur aus der Sicht beider bis an ihr Lebensende gültig – sie sind es auch heute noch. Das unentwegte Warnen der Herrschenden vor großen Streikbewegungen zeigt, dass bei ihnen oft eine größere Erkenntnis hinsichtlich der weitreichenden Wirkungen längerer Streiks besteht als bei den abhängig Beschäftigten selbst.
Begonnen haben Ende Oktober mit dem Ende der sogenannten Friedenspflicht im Bereich der Metall- und Elektroindustrie die ersten Warnstreiks, um die mehr als bescheidenen Forderungen der IG Metall nach einer 8-prozentigen Lohnerhöhung durchzusetzen, also „die Geldgier der Bourgeoisie in gewisse Schranken“ zu weisen. Am Horizont stehen bereits jetzt für Anfang 2023 die Kämpfe um eine angemessene Lohnerhöhung im öffentlichen Dienst. Auch sie wird ohne Streiks nicht zu haben sein.
Die in der Tradition von Marx und Engels wirkenden Menschen unterstützen diese Streiks nicht nur, um den weiteren Niedergang des Lebensstandards von Millionen lohnabhängig Beschäftigter zu bremsen und diese Tendenz möglichst umzukehren. Sie unterstützen diese Streiks auch deshalb, weil nicht nur die theoretischen Einsichten der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus, sondern auch die praktischen Erfahrungen der letzten Jahre und Jahrzehnte beweisen, dass in Streiks die Arbeiterinnen und Arbeiter „am liebenswürdigsten, am edelsten, am menschlichsten“ werden. Vorher isoliert und geduckt Arbeitende blühen auf, vorher von oben Verachtete wachsen zu Riesen an Selbstbewusstsein, Trotz und Stärke, vorher Vereinzelte vereinigen sich. Die Kooperation – die Solidarität der Klasse – siegt über die Konkurrenz. Selbst nach Streikbewegungen, die ihre Ziele nicht erreichen, haben die Gewerkschaften in der Regel nicht nur an Mitgliedern gewonnen, sondern auch an Selbstbewusstsein und an Kampfkraft für künftige Auseinandersetzungen mit dem Kapital.
Daher wünschen wir allen abhängig beschäftigten Frauen und Männern in den kommenden Wochen den Mut zum Streik – er entfaltet die menschlichste Seite der Menschen.
Dieser Text erschien zuerst auf der Website der Marx-Engels-Stiftung. Für UZ wurde er geringfügig redaktionell bearbeitet.