„Einen Deserteur empfängt man nicht mit offenen Armen“, ließ sich EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hinreißen. Der Frust sitzt tief im EU-Establishment. Mit dem Brexit, dem Ausstieg Britanniens aus der EU ist die Erweiterungsdynamik des deutsch-dominierten, finanzkapitalistischen EU-Projekts zum ersten mal gebrochen und umgekehrt (Nur Grönland war bislang, 1982, aus der EWG ausgetreten). Mit dem „Vereinigten Königreich“, dessen Einigkeit ebenfalls auf der Kippe steht, steigt mit einem BIP von umgerechnet 2,5 Billionen Euro, die zweitgrößte Ökonomie der EU-28, mit einem Saldo von 5,6 Mrd. Euro, der drittgrößte Nettozahler in die EU-Kasse und mit einem Rüstungshaushalt von 50 Mrd. Euro, die erfahrenste und größte europäische Interventionsstreitmacht aus dem Projekt aus. London, der bedeutendste Finanzplatz weltweit, setzt im Handel mit Derivaten täglich nahezu genau so viel um, wie die Realindustrie des gesamten Landes im Jahr erwirtschaftet.
In den vergangenen Tagen ist von der politschen und ökonomischen Elite sowie in der neoliberalen Cheerleader-Presse viel über die unmittelbaren ökonomischen Folgen eines GB-Austritts lamentiert worden. Tatsächlich rauschten die Kurse am Tag danach in den Keller. Großspekulanten wie George Soros hatten lauthals vor dem Brexit gewarnt, und gleichzeitig, wie so oft auf den Crash gewettet und Milliarden verdient. Soweit das Casino. Was die realwirtschaftlichen Folgen angeht, so dürften sie noch am einfachsten beherrschbar sein. Britannien hatte gegenüber Deutschland 2015 ein Handelsbilanzdefizit von 51 Mrd. Euro eingefahren und ist dabei mit den USA (minus 54 Mrd. Euro) einer der Hauptopfer des deutschen Merkantilismus, der mit einem Handelsbilanzüberschuss von 248 Mrd. Euro Europa konsequent in die Verschuldung und in die Krise treibt. Die deutsche Exportindustrie dürfte sich, zumal in Zeiten von TTIP und CETA, den britischen Markt ebenso wenig ruinieren lassen wollen, wie den ihres Hauptkunden USA, welche ja bekanntlich ebenso wenig Mitglied der EU-28 sind. Und die Finanzbranche in Frankfurt fiebert schon (vermutlich vergeblich), die faulen Früchte eines möglichen Bedeutungsverlustes des Londoner Casinos ernten zu können. Den noch verbliebenen Resten der britische Industrie dürfte der Kurssturz des Pfund eher wie ein warmer Regen erscheinen. Die konjunkturfördernde Währungsabwertung, um die sich die Notenbanken weltweit einen heftigen (wie weitgehend vergeblichen) Kampf liefern, kommt hier sozusagen frei Haus.
Wichtiger dürften die politisch-psychologischen, die EU/Euro-strategischen und auch die geostrategischen Konsequenzen sein. Entgegen der öffentlichen Gesundbeterei stecken EU und Eurozone in einer existentiellen Krise. Eine kohärente Krisenbewältigungsstrategie ist nicht in Sicht. Die vorherrschende Strategie besteht im Ziel, einen von Austerität geprägten Merkantilismus für die gesamte EU zu etablieren. In diesem Konzept agiert die Eurozone wie ein vergrößerter Spar- und Exportweltmeister Deutschland, der mit China und USA um die globalen Märkte konkurriert. Dieses Vorhaben, das eine Ersetzung Billionen-schwerer privater Risiken durch nicht einbringliche öffentliche Kredite impliziert, allein in Griechenland wird ein dreistelliger Milliardenbetrag abgeschrieben werden müssen, kann keine Dauerlösung sein. Dieses brutale Krisenkonzept zugunsten der 0,01 Prozent und zulasten hunderter Millionen Menschen hat in vielen EU-Staaten EU-kritische Bewegungen entstehen lassen. Im Brexit treten diese, sich strukturell verstärkenden fundamentalen Widersprüche erstmals mit einem politischen Bruch auf europäischer Ebene zu Tage.
Da nach allem, was bislang erkennbar ist, ein linkes Europaprojekt mehr als unrealistisch ist und das gegenwärtige Konzern-Europa die zentrifugalen Kräfte weiter verstärkt, dürfte vielleicht nicht der Zusammenbruch, aber eine weitere Erosion der EU kaum zu verhindern sein. Als Konsequenz gewinnt – Bismarck seligen Angedenkens – die kleineuropäische Lösung an Attraktion. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten oder das Abkoppeln der dann endgültig bankrotten Peripherie.