Ein einigermaßen schlagfertiger Sozialdemokrat würde einer Kommunistin oder einem Mitglied der Partei „Die Linke“, die ihn auf den Niedergang der SPD hinweisen, vielleicht mit dem Hinweis kontern, beide Parteien zusammen wären doch froh, die Wählerstimmen oder die Mitgliederstärke der Partei zu haben, die sie so kritisieren.
„Brüder zur Sonne, zur Freiheit …“ haben die Delegierten des SPD-Parteitags zum Schluss angestimmt, nachdem sie zum einen eine neue Führung installiert und beschlossen hatten, weder den Koalitionsvertrag mit der CDU/CSU aufzukündigen noch etwa ultimativ auf Neu- oder Nachverhandlungen zu bestehen, sondern „Gespräche“ zur Aktualisierung und Ergänzung dieses Vertrages aufzunehmen.
„In die neue Zeit“ war zwar das Leitmotto der drei Tage von Berlin und insbesondere die neue Ko-Vorsitzende Saskia Esken bemühte sich in ihren Reden, das Gefühl eines neuen Aufbruchs zu wecken – aber es ertrank letztlich doch in den Kompromissmühlen dieser müde gewordenen Organisation.
Geredet werden soll nun mit der CDU/CSU über einen höheren Mindestlohn, energischere Maßnahmen zum Schutz des Klimas und über Investitionen. Insbesondere Norbert Walter-Borjans hatte das Verbot einer Nettokreditaufnahme – die sogenannte „Schuldenbremse“ also – in den Mittelpunkt seiner Angriffe auf den Koalitionspartner gestellt. Diese Bremse aber steht nur deshalb in den Bundes- und vielen Landesverfassungen, weil CDU und SPD sie gemeinsam dort hineingeschrieben hatten. Sie wird nur mit Zweidrittelmehrheiten wieder entfernbar sein. Es geht also bei Walter-Borjans‘ Angriffen mehr um Rhetorik als um Politik.
Die SPD stützt Frau Merkel also weiter und redet ein bißchen mit ihr und den anderen Koalitionskumpanen um eine Aktualisierung der weiterhin bestehenden Geschäftsgrundlage. Das ist alles – klingt mehr nach einem Ritt in die Abendsonne als nach Aufbruch in eine neue Zeit.
Die SPD hat seit ihren Glanztagen, als sie von Willy Brandt über Helmut Schmidt bis zu Gerhard Schröder noch die Kanzler stellen konnte, die Hälfte ihrer Mitglied- und Wählerschaft verloren. Großgeworden ist die europäische Sozialdemokratie im 19. Jahrhundert als politisches Instrument zur Überwindung des Kapitalismus – bis sie sich Anfang des 20. Jahrhunderts gespalten hat in den revolutionären Flügel, der in Russland die Mehrheit errang und in Deutschland und anderswo in der Minderheit blieb. Ihre spezifische Funktion hat diese Sozialdemokratie in Europa zwischen der russischen Revolution vom Oktober 1917 bis zum Herbst 1989 dadurch gehabt, dass sie gebraucht wurde als reformistische Alternative zur drohenden revolutionären Erhebung. Als in jenem Herbst die Kommunisten ihren 17er Sieg verspielt hatten, begann auch – von den meisten Sozialdemokraten nicht begriffen – der Niedergang der SPD. Das, was sich jetzt vollzieht, ist insofern das Ende der SPD in der zwischen 1917 und 1989 gewohnten Form als gesamtnationaler Betriebsrat und Bollwerk gegen die revolutionäre Bedrohung. In ihrer Funktion als Regenerationsquelle der Regierungs-Stamm-Partei CDU wird sie zur Zeit mindestens in Deutschland durch die etwas frischer wirkende Partei „Die Grünen“ ersetzt – jedenfalls bis zur Beschleunigung der Rechtswende, die dann eine AfD/CDU-Kombination denkbar werden ließe.
Der anfangs erwähnte Hinweis auf die nach wie vor vorhandene Stärke der SPD übersieht die Trends und die hinter ihnen wirkenden Ursachen: Mit dem Niedergang des kapitalistischen Systems ist der Niedergang einer Partei, die diesem System (spätestens seit Godesberg 1956) die Vasallentreue geschworen hat, unvermeidbar. Parteien, die – vielleicht noch schwankend und jetzt noch schwach – darauf setzen, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist, werden unabhängig von ihrer gegenwärtigen Größe wachsen. Mit der SPD im Niedergang werden sich deren Wege schon bald kreuzen hinsichtlich ihrer Mitglieder- und Wählerstärke.