Von wegen „Auf Kante genäht“, wie Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) noch vor einem Jahr hinsichtlich der Situation des Bundeshaushaltes sorgenfaltenreich orakelte. „Wir hatten ein bisschen Glück, und natürlich haben wir auch gut gewirtschaftet“, verkündete ein gut gelaunter Minister nun zum Jahresbeginn nach der ersten Ergebnisrechnung für 2019: Die Zinszahlungen sind abermals zurückgegangen, die Steuereinnahmen um 3,5 Milliarden Euro höher als geplant – alles zusammen ein Plus von rund 19 Milliarden Euro in der Bundeskasse.
Die Länder verzeichnen nach den ersten Berechnungen ein Plus von fast 13 Milliarden Euro, die Kommunen ein Plus von 7,1 Milliarden und die Sozialversicherungsträger haben 7,7 Milliarden mehr in den Kassen als ursprünglich angenommen. Alles zusammen haben die drei staatlichen Ebenen und die von der öffentlichen Hand organisierten Sozialversicherungen also rund 45 Milliarden Euro mehr als nach den Planungen für dieses Haushaltsjahr 2019 angenommen.
Kurzfristig wird der Geldsegen in Rücklagen gepackt, eine halbe Milliarde bekommt das Kriegsministerium – wer weiß, wozu es noch gebraucht wird. Ansonsten hat auf der politischen Bühne der übliche Streit um die Nutzung der sprudelnden Geldquellen begonnen. Scholz sprach – sicherlich auch als jemand, der die Hoffnungen auf eine stärkere Rolle in der SPD noch nicht aufgegeben hat – von zusätzlichen Investitionen in Schulen, Krankenhäusern, Klimamaßnahmen und der Sicherung „gleichwertiger Lebensverhältnisse“. Das Kontra kam sogleich von der Kanzlerpartei, die gemeinsam mit ihrer bayerischen Schwester Steuersenkungen vor allem für Unternehmen anmahnte. Ein ähnlicher Streit wird sich nun in den Bundesländern und Kommunen wiederholen. Hier schreit allerdings der Zustand der Kindergärten, Schulen, Hochschulen und Verkehrsinfrastruktur geradezu nach Maßnahmen und vor allem auch neuen Planstellen, um die möglicherweise zur Verfügung stehenden Mittel überhaupt verbauen zu können.
In der Diskussion gerät ein Widerspruch aus dem Blick: Die aus marxistischer Sicht eigentlich interessantere Debatte wäre der Anstieg der Staatsquote. Die Steuereinnahmen betrugen nach rund 800 Milliarden Euro im Jahre 2018 nun 824 Milliarden Euro, ein Plus von rund 3 Prozent. Das Wirtschaftswachstum lag aber laut Statistischem Bundesamt nur bei 0,6 Prozent. Noch magerer fiel das Produktivitätswachstum der Industrie aus: Gerade einmal 0,1 Prozent. Dies ist ein Trend, der schon etwas länger anhält. Im Ergebnis steigt der Anteil der Mittel, die dem kapitalistischen Staatsapparat aus dem Einkommen der Beschäftigten und der Unternehmen per Steuern zur Verfügung zu stellen sind – die Staatsquote also – kontinuierlich an. Bei einem antimonopolistischen, friedfertigen und sozial ausgerichteten Staat wäre das positiv. Bei einem, der sich zunehmend auf Krieg orientiert und die Ungleichheiten forciert, statt sie zu dämpfen, ist das schlicht eine Ausplünderung bereits Darbender.
Vor allem aber ist das nicht nachhaltig, um eines der zurzeit beliebtesten Modewörter des Politikbetriebes aufzugreifen. Auf Dauer kann eine kapitalistische Wirtschaft, die stagniert oder schrumpft, keinen ständig wachsenden Überbau tragen. Die Einnahmen des Staates und der staatlich organisierten Sozialinstitutionen (Steuern, Sozialabgaben und Zölle zusammengerechnet) betrugen nach der Konterrevolution in der DDR und ihrem darauf folgenden Anschluss im Jahr 1991 noch 686,3 Milliarden Euro – sie sind seitdem um fast eine Billion auf nunmehr 1.606,7 Milliarden Euro angewachsen. Ihre Steigerung liegt deutlich über der des seither aufsummierten Wirtschaftswachstums und erst recht über der Steigerung der Produktivität dieser nunmehr gesamtdeutschen Ökonomie.
Die Epoche, in der wir leben, ist eine Epoche fallender Profitraten und nachlassender Dynamik in den traditionellen Zentren des Kapitals. Ihr prägnantester Ausdruck ist der Rückgang der Produktivität. Er schlägt – früher und später und nicht gleichmäßig, sondern in krisenhaften Schüben – durch auf das Wirtschaftswachstum. Davon kann sich der über Steuereinnahmen finanzierte staatliche Überbau eine Weile abkoppeln. Aber so beeindruckende Feuerwerke er auf schrumpfender Eisscholle auch hervorzaubern kann: Auf Dauer lässt sich auf einer stagnierenden oder beim nächsten Krisenschub schrumpfenden Wirtschaft kein expandierender Staatsapparat aufbauen.