Der 1. Mai 1933 wurde von den Faschisten als „Tag der Nationalen Arbeit“ zum gesetzlichen Feiertag erklärt.
Voraussetzung der faschistischen Politik im Interesse des Kapitals war die Zerschlagung der Arbeiterbewegung und Scheinzugeständnisse an die Arbeitenden und ihre Familien. (…)
Die Zerstörung ihrer traditionsreichen Organisationen zwang einen Teil der Gewerkschafter in den Untergrund. Von nun an lebte der 1. Mai in kleinen Gruppen, in Zuchthäusern, Konzentrationslagern und in der Emigration weiter. Unterdrückung, Verfolgung und Todesgefahr konnten den Maifeier-Gedanken nicht völlig vernichten. Die Kämpfenden lebten in der Gewissheit: „Unser 1. Mai kommt wieder!“
Eine herbe Kühle am Morgen. In der Nacht hatte es sogar etwas gefroren, stellte ich beim Erwachen fest. Heute war also der 1. Mai.
Ich musste daran denken, wie die Nazis den Werktätigen diesen Feiertag gestohlen hatten und ihn aus rein psychologischen Gründen zum Nationalfeiertag stempelten. Dies geschah, um den arbeitenden Menschen zu blenden, um ihren Egoismus, der sich hinter all ihren Machenschaften barg, zu tarnen. Wie oft hatte ich diesen Nazi-Maifeiern im Lautsprecher interessiert beigewohnt und immer wieder über die Lüge, die aus den vielen Reden dieser Scharlatane sprach, den Kopf schütteln müssen, während so viele aus der breiten Masse ihre Worte als Wahrheit hinnahmen. Wo blieb hier noch der Kampf für eine gerechte Sache? –
Aus nächster Nähe ertönte Musik. Es war die Lagerkapelle, die, Freiheitslieder spielend, durch das Lager marschierte.
Um acht Uhr begann der große Aufmarsch. Die einzelnen Nationalitäten formierten sich vor ihren Unterkünften und marschierten, an der Spitze ihres Zuges die Fahne in ihren Landesfarben, dem Appellplatz zu. Wir Deutschen fanden uns an den Punkten im Lager zusammen, wo sich unsere Bezirksstellen, wie Brandenburg, Bayern, Ruhrgebiet, Rheinland, Saarland, Thüringen, Sachsen und so weiter befanden, um von dort aus aufzumarschieren.
Wir trugen unseren Zügen weit ausgespannte rote Transparente voran mit den Parolen des zukünftigen Kampfes, die alle den gleichen Sinn hatten und der lautete: „Was die Naziverbrecher vernichtet haben, das werden wir aufbauen!“
Große Transparente, auf denen in leuchtenden Buchstaben die Worte „Gerechtigkeit, Frieden, Freiheit und Brot“ standen, waren hier und dort an den Rändern des Festplatzes angebracht.
Wie bei der Gedenkfeier stand auch heute die Lagerkapelle in der Nähe der großen Tribüne. Bei den Klängen von Freiheitsliedern der einzelnen Nationen marschieren die Tausende auf dem Appellplatz auf. Alle Gesichter spiegelten den Ernst und die Würde des heutigen Tages wider.
Dieser Appellplatz, auf dem wir die ganzen Jahre hindurch Tag für Tag unter der Knute der SS antreten und manche Nacht hindurch stehen mussten, wenn es einem, der sadistischen SS-Banditen gefiel, ganz gleich, ob dabei mehr oder weniger Kameraden zusammenbrachen, sah uns heute als befreite Menschen sich für eine Freiheitskundgebung formieren. Dieser Appellplatz, könnte er reden, würde allein ein Buch füllen über das unermessliche Leid, das hier im Laufe der vielen Jahre über hunderttausende von Menschen hereingebrachen war. Würde er jedes Einzelnen Schmerz erzählen können, es gäbe ein Meer von Tränen, eine Welt voller Weh.
Und hier standen wir nun heute am Morgen des 1. Mai, dem Tage der Freiheit, als Angehörige aus mehr denn achtzehn Nationen, ergriffen von der Bedeutung dieses Tages, der uns entschlossen fand, ihn als Zeichen internationaler Solidarität vor aller Welt zu bekennen und würdig und schlicht zu begehen als Auftakt einer neuen Zeit.
Ein langer Zug wieder genesener jugendlicher Juden näherte sich aus Richtung der ehemaligen SS-Kasernen, die jetzt als Kranken-Unterkunft dienten. Es waren darunter Kinder von zehn bis vierzehn Jahren. Auf dem Transparent, das sie trugen, waren die Gaskammern von Auschwitz, über denen der Tod die Sense schwang, abgebildet, worunter die Worte standen: „Vergesst die Gaskammern, die Millionen Toten von Auschwitz nicht!“
Ein jeder von uns erlebte wohl in dieser Stunde in der Erinnerung noch einmal das Furchtbare und Grausame der Vergangenheit. Als dann die Lagerkapelle das weltbekannte Freiheitslied der unterdrückten Massen intonierte: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit …“, sah ich manchen alten, durch Not und Tod gegangenen und von unsäglichem Leid hart gewordenen Konzentrationär, Tränen in den Augen.
Tränen der Freude.
Tränen der Dankbarkeit dem Schicksal gegenüber, das ihn diesen Tag erleben ließ.
Ohne Aufforderung, wie auf Kommando, entblößten sich die Häupter, und inbrünstig wie ein Schwur löste sich in den Sprachen aller Nationen das Lied von den Lippen und brauste zum Himmel empor:
Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
Brüder, zum Lichte empor.
Hell aus dem dunklen Vergangenen
Leuchtet die Zukunft hervor.
Seht, wie der Zug der Millionen
Endlos aus Nächtigem quillt,
Bis Euer Sehnsucht Verlangen
Himmel und Nacht überschwillt.
Brüder, in eins nun die Hände,
Brüder, das Sterben verlacht,
Ewig der Sklaverei ein Ende,
Heilig die allerletzte Schlacht.
Was sich in diesem Augenblick hier in Buchenwald vollzog, kann nur empfinden, der diese würdigen Minuten miterlebt hat. Hier standen Vertreter aller Nationen Europas. Menschen, die durch Nacht und Grauen gegangen, der Knechtschaft, der furchtbarsten Sklaverei und dem Vernichtungstod entronnen waren, erlebten den Tag der Freiheit. Dass sie Not und Tod bis zur letzten Minute trotzen konnten, verdankten sie der großen Solidarität, die uns alle wie ein stählernes Band umschloss und einte. Dieser Tag war ein klares, reines Symbol der Völkergemeinschaft. Jeder von uns fühlte aufgeschlossenen Herzens den Anbruch einer Verständigung und den Beginn eines wirklichen Weltfriedens.
Die antifaschistischen Kameraden aus allen Ländern, die dereinst in ihrer Heimat die Politik ihres Landes leiten oder zumindest beeinflussen, werden diesen feierlichen Akt in Buchenwald niemals vergessen.
Wir Antifaschisten sind uns gewiss, dass dieses Band der Solidarität mit Blut und Tränen für alle Zeiten so fest geschweißt wurde, dass es keiner verbrecherischen faschistischen, imperialistischen und reaktionären Clique in der Welt jemals wieder gelingen wird, den Mord unter die Völker zu tragen.
Das haben wir 21.000 befreite Häftlinge an diesem 1. Mai geschworen.
Von demselben Geist waren auch die Reden getragen, die ehemalige Häftlinge aller Nationen in der Sprache ihres Landes von der Tribüne aus hielten, wo die Symbole der drei großen Alliierten über dem Ganzen leuchteten.
Ein Pantomime veranschaulichte noch einmal den blutigen Weg des Nazismus im Leben der Völker und unserem vergangenen Leidensdasein.
Unter den Klängen der Freiheitslieder marschierten wir an den Offizieren der alliierten Mächte vorbei unseren Ausgangspunkten zu.
Dieser Tag hatte mir die schönste und eindrucksvollste Maifeier meines Lebens geschenkt.
Aus der Geschichte des 1. Mai
Als 1889 der Gründungskongress der II. Internationale in Paris eine einmalige Manifestation der Arbeiter aller Länder für den Achtstundentag beschloss und den Zeitpunkt auf den 1. Mai 1890 festsetzte, ahnte noch niemand, welches Echo damit in der Arbeiterschaft ausgelöst werden sollte.(…)
Es entsprach den Bedürfnissen der Arbeitenden, dass der 1. Mai bereits ein Jahr später auf dem Brüsseler Kongress der II. Internationale als ständiger Feiertag proklamierte wurde. Seitdem besaßen die Arbeiter einen Tag, an dem sie geschlossen und vor einer breiten Öffentlichkeit ihre Ziele nachdrücklich vertreten konnten.
Fast alle Maiforderungen mussten mit gößten Opfern durchgesetzt werden. Vieles, was uns heute als selbstverständlich erscheint, zum Beispiel das Koalitionsrecht, das allgemeine Wahlrecht, das Frauenwahlrecht, Jugendarbeitsschutgesetze usw. waren Forderungen am 1. Mai. Solange noch der Kampf um bessere Arbeits- und Lebensbedingungen, um teifgreifende Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung geführt werden muss, wird seine Bedeutung als Kampf- und Feiertag lebendig bleiben.
Aus dem Vorwort von Udo Achtens „Illustrierte Geschichte des 1. Mai“
Udo Achten, Sozialist und Gewerkschafter, war mehr als zwanzig Jahre in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit tätig. Über Jahrzehnte sammelte er Fotos, Plakate und Dokumente aus der Geschichte der Arbeiterbewegung, die er für Ausstellungen zur Verfügung stellte und in seinen eigenen Büchern publizierte. Teile seiner Sammlung waren auch immer auf den UZ-Pressefesten zu sehen.
Mit dem ausgewählten Text eines unbekannten KZ-Häftlings zum 1. Mai 1945 aus seinem Buch „Illustrierte Geschichte des 1. Mai“ würdigen wir Udo Achten und seine Arbeit. Er ist am 6. Februar gestorben.