Bundesregierung verschiebt das Lieferkettengesetz weiter

Denn sie wissen, was sie tun

Die Bundesregierung hatte sich 2011 gegenüber der UNO verpflichtet, für die Einhaltung der Menschenrechte durch international tätige deutsche Konzerne zu sorgen. Im Rahmen des „Nationalen Aktionsplans Wirtschaft und Menschenrechte“ (NAP) beauftragte sie 2016 die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft „Ernst & Young“, eine repräsentative Befragung zu der „Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht“ durchzuführen. Aus 7.396 deutschen Unternehmen mit jeweils mehr als 500 Beschäftigten wurden 2.254 Adressaten ausgewählt. Trotz vieler Erinnerungen kam Antwort nur aus 455 Vorstandsetagen. Spräche nicht schon das für das generelle Desinteresse der deutschen Wirtschaft an einem Lieferkettengesetz, zeigte die Auswertung der Fragebögen ein klares Bild der Interessenlage: Mehr als 80 Prozent der Firmen sahen keinen Grund für eine Beschränkung der Profitmarge durch Anwendung der Rechts-, Sozial- und Umweltstandards.

Die Gegner des Lieferkettengesetzes verstecken sich schon lange nicht mehr hinter anonymisierten Fragebögen. Gabriel Felbermayr, Präsident des Instituts für Weltwirtschaft (IFW), hält ein Verbot der Kinderarbeit nicht für zielführend: „Die Kinder arbeiteten dann nicht mehr in den Fabriken, aber dafür irgendwo im informellen Sektor, manche sogar auf dem Straßenstrich“, sagte er gegenüber der „Zeit“. Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) arbeiten 73 Millionen Kinder in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen auf der untersten Ebene der globalen Lieferketten, ob als Plantagenarbeiter in Afrika und Südamerika, als Textilarbeiter in Bangladesch oder in den Gold- und Erzminen. Falls überhaupt eine Haftung deutscher Unternehmen in Betracht komme, dann nur in Bezug „auf den unmittelbaren Lieferanten“, hört man von der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU (MIT), wohl wissend, dass damit jegliche Haftung auf der Rohstoffgewinnungs- und Produktionsebene, die von Hungerlöhnen, Zwangsarbeit, Rechtlosigkeit und fehlender Arbeitssicherheit geprägt sind, ausgeschlossen wird. Weltweit 450 Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter sind auf der ersten Stufe der „Wertschöpfung“ tätig. Monatslöhne von 95 US-Dollar in Bang­ladesch oder 26 US-Dollar in Äthiopien führen dazu, dass der Lohnanteil am Endpreis der in Deutschland vertriebenen Produkte nicht selten unter einem Prozent liegt.

Folgt man der bürgerlichen Presse, hat das Lieferkettengesetz in Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) und Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zwei glühende Verfechter, die sich gegen die Industrielobby und deren ministerielle Speerspitze, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU), zur Wehr setzen. Der bislang interne – und zwischenzeitlich geleakte – Schriftwechsel zwischen Industrie und Ministerien spricht eine andere Sprache: So schrieb der Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer (BDA) am 9. Mai 2019 an Bundesminister Müller: „Ich habe in diesem Gespräch den festen Eindruck gewonnen, dass Sie sich dieses Papier (gemeint ist der Entwurf des Lieferkettengesetzes) nicht zu eigen machen wollten. Ich hatte Sie auch so verstanden, dass Sie bereit wären, sich öffentlich von diesem Text zu distanzieren.“ Nachdem dann mehrere Termine zur Vorstellung des Gesetzesentwurfs kurzfristig abgesagt wurden, meldete das „Handelsblatt“ am 25. Juni 2020 „Heil und Müller entschärfen die Haftungsregeln für Unternehmen“. Die Haftung soll sich fortan nur noch auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit erstrecken. Bundesarbeitsminister Heil ließ am 12. September über das „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ (RND) verlauten, es gehe nur noch „um größere Unternehmen“, was dafür spricht, dass auch der Adressatenkreis des Gesetzes inzwischen enger gezogen wird. Am 17. September sollte der Entwurf im Bundestag vorgelegt werden. Fehlanzeige: Bundesminister Müller warf an diesem Tag die richtige Frage auf: „Warum machen wir das nicht“?

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"Denn sie wissen, was sie tun", UZ vom 2. Oktober 2020



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