Zum Tod von Hans Modrow

Denkender Parteisoldat

Frank Schumann

Seinen 95. Geburtstag feierten wir Ende Januar im ganz kleinen Kreis in einem Seniorenheim in Berlin, in das er wenige Tage zuvor eingezogen war. Die drei Eingriffe am Herzen im verflossenen Jahr waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Die Ärzte hatten zum Wohnungswechsel geraten, weil er dort unter medizinischer Kontrolle sei. Die war auch nötig, denn schon wenige Tage nach der Feier, die sich im Nachgang als eine Art kollektiver Abschied erwies, erlitt Hans einen Schlaganfall.

Hans Modrow kam aus einem Dorf in Pommern und wäre dort vielleicht auch geblieben, wenn die Nazis ihn nicht mit 17 in den Volkssturm gepresst hätten. Ohne je einen Schuss abgegeben zu haben, kam er für vier Jahre in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Die Antifa-Schule dort und nicht der verbrecherische deutsche Krieg gegen Europa gaben seinem Leben die entscheidende Wende. Er wurde und blieb, allen temporären Verwerfungen zwischen Berlin und Moskau zum Trotz, ein Freund des russischen Volkes. Diese solidarische Verbundenheit wussten die Russen zu schätzen. Botschafter Sergej Netschajew war einer der Ersten, der kondolierte: „Als Vorsitzender des Ältestenrates der Partei ‚Die Linke‘ hat er als weitsichtiger und prinzipientreuer Politiker sich stets für gegenseitige Verständigung zwischen unseren Völkern starkgemacht.“

Weitsichtigkeit und Prinzipientreue kosteten Modrow im letzten Frühling den Vorsitz im Ältestenrat seiner Partei. Die kurzsichtigen Kleingeister im Karl-Liebknecht-Haus wollten ihn loswerden und monierten öffentlich ein internes Diskussionspapier. Darin hatte Hans Modrow die rhetorische Frage gestellt, ob nicht bereits vor dem 24. Februar 2022 in der Ukraine Bürgerkrieg zwischen der russischsprachigen Bevölkerung und dem Kiewer Regime geherrscht habe. Acht Jahre zuvor hatten sich ukrainische Oligarchen und korrupte Politiker mit Hilfe der USA an die Macht geputscht. Kiew unternahm seither alles, sich seiner russischen Wurzeln und Verbindungen zu entledigen, um in NATO und EU zu kommen und sich vom Westen alimentieren zu lassen. Modrows Analyse folgte der Überlegung: Cui bono – Wem nützt es? Bereits die Frage ging einigen linken Parteihäuptlingen zu weit. Deshalb musste der Marxist Modrow gehen. Selbst sein Kämmerchen im Karl-Liebknecht-Haus musste der einstige Ehrenvorsitzende der Partei räumen.

Hans Modrow war zeitlebens ein treuer Parteisoldat, weil er überzeugt war, dass Geschlossenheit und Organisationsfähigkeit wesentliche Elemente des politischen Erfolgs sind. Ebenso überzeugt war er, dass Prinzipientreue kein Appell ist, das eigene Denken aufzugeben und sich der jeweiligen Führung willenlos zu unterwerfen. So löckte er denn wider den Stachel auch als 1. Sekretär der Dresdner Bezirksleitung der SED wie auch als Ministerpräsident der DDR 1989/90. Darum überschrieb völlig zu Recht die „Berliner Zeitung“ ihren bemerkenswerten Nachruf auf Modrow mit der Zeile: „Der Letzte, der die Ostler vor dem übergriffigen Westen schützte“. Das tat er, was ihm zwar viele Ostdeutsche, aber eben nicht alle Linken dankten. Für manche und manchen hatte er die Übergabe der DDR an das Kapital vorbereitet, hatte den Staat der Arbeiter und Bauern verraten und verkauft. Der Basar befand sich allerdings in Moskau, nicht in Berlin. Den Kuhhandel besorgten Kohl und Gorbatschow, und Bush zog die Fäden. Modrow und seine Regierung trugen zähneknirschend der Realität Rechnung und versuchten mit weit über hundert Gesetzen und Verordnungen, das Schlimmste für die DDR-Bauern und -Arbeiter zu verhüten. Dass es nur im Maßen gelang, ist nicht Modrow, sondern dem westdeutschen Kapital und seinen Erfüllungsgehilfen in West wie Ost anzulasten. Modrow sprach nie von Einheit, sondern von Zweiheit. Dem Kommunisten war bewusst: Ob man sie nun so nennt oder nicht – die Klassengesellschaft ist jetzt gesamtdeutsch.

Modrow bildete gleichsam die Brücke in unsere sozialistische Vergangenheit. Wir müssen uns ihrer erinnern, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Nun auch ohne Hans.

Unser Autor ist der Verleger von Hans Modrow

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"Denkender Parteisoldat", UZ vom 17. Februar 2023



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