Er liebte weder den Schmeichel noch die Schmeichler. „Festreden sind entsetzlich“, meinte Friedrich Dürrenmatt, und die voraussehbaren Festlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag am 5. Januar 1991 waren ihm ein Gräuel. Er entzog sich ihnen auf seine Weise, durch einen Herzinfarkt am 14. Dezember 1990. „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat“, schrieb er in seinen Anmerkungen zum Stück „Die Physiker“. Diese Wendung sei nicht voraussehbar und die Kunst des Dramatikers bestehe darin, „in einer Handlung den Zufall möglichst wirksam einzusetzen“. Das hat Dürrenmatt mit seinem überraschenden Tod zur Perfektion gebracht.
Als ich mich Mitte der sechziger Jahre in einem Emmentaler Gymnasium auf dem Weg zum Abitur abmühte, hatte sich der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt seinen Platz in unserem Lehrplan bereits fest ergattert. Sein „Besuch der alten Dame“ über die erniedrigende Käuflichkeit eines ganzen Dorfes und die Macht des Mammons konnten wir als Emmentaler Jugendliche sehr gut nachvollziehen: Wir wohnten alle irgendwie in Güllen, damals. Selbst heute noch steht das Werk bei Schüleraufführungen am Ende der obligatorischen Schulzeit auf der Beliebtheitsskala weit oben.
1965, als meine Mitschülerinnen und Mitschüler im Sommer die Badesachen packten und sich in die Sommerferien verabschiedeten, wurde ich zwecks Aufbesserung meiner Französischnoten für einige Wochen nach Neuenburg verbannt. Neuchâtel, wie der Hauptort des gleichnamigen Kantons am gleichnamigen See amtlich heißt, hatte zu jener Zeit den Anspruch, das beste Französisch zu vermitteln. In diesem Neuenburg, das sich im Mittelalter der katholischen Kirche und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der preußischen Herrschaft entledigte, hatte Friedrich Dürrenmatt 1952 mit seiner fünfköpfigen Familie Wohnsitz bezogen.
Dieser Umstand und seine Wohnadresse waren wohl bekannt und ich stattete mich schon vor meiner Abreise zum Französischkurs mit einigen seiner Werke aus. Nicht, um sie nochmals zu lesen – ich sollte ja Französisch lernen –, sondern um sie vom Dichterfürsten persönlich signieren zu lassen. Bei der erstbesten Gelegenheit machte ich mich die leichte Anhöhe am Fuß des Chaumont hinauf und klingelte am 12. Juli bei Dürrenmatts. Es war die jüngste Tochter, Ruth, die mir öffnete und mich ins Arbeitszimmer ihres Vaters führte. Der Besuch war kurz und durchaus freundlich, meiner Bitte wurde Genüge getan und ich marschierte mit drei persönlich gewidmeten Bändchen zurück in die Stadt.
War mein erstes Unterfangen jugendliche Forschheit, war der zweite Teil wohl einfach unverfroren. Flugs deckte ich mich nämlich in einem Antiquariat mit dem Krimi „Der Richter und sein Henker“ und dem schmalen Bändchen „Stranitzky und der Nationalheld“ ein und klingelte bereits am nächsten Tag wieder an Dürrenmatts Türe. Erneut war es Ruth, die mir öffnete. Ihr Vater sei gerade an der Gartenarbeit, sie schaue mal, was zu machen sei. Tatsächlich tauchte Dürrenmatt nach einer Weile auf, schnaufend und schwitzend, mit kurzen Hosen, Gartenschere und Strohhut: „Ich bin doch keine Unterschreibmaschine“, meinte er grummelnd. Keine Widmung diesmal, kein Eistee, nurmehr ein rasch hingekritzeltes „Dürrenmatt“. Mir sollte es recht sein.
Anderweitig war Dürrenmatt eher knausrig mit seiner Unterschrift. Kollektive Entrüstung lag ihm nicht. Kaum ein Manifest von Geistesschaffenden zu drängenden Fragen jener Zeit, das er mitunterzeichnet hätte. Außer es sei von ihm selbst mitverfasst worden, wie 1971 eine Petition an die Direktion des Westschweizer TV zur sofortigen Wiedereinstellung von sechs fristlos entlassenen, politisch missliebigen Mitarbeitenden. „Ich bin Schriftsteller, kein Unterschriftsteller“, begründete er etwa seine Absage an die Mitgliedschaft in der Autorenvereinigung „Gruppe Olten“.
Nicht, dass Dürrenmatt sich vor klaren Stellungnahmen gedrückt hätte, aber Stellung bezog er lieber individuell, in einer seiner etwa 50 Reden zum Beispiel, oder er ließ seine Werke sprechen: Mit der Komödie „Die Physiker“, die er mitten in der Kontroverse um eine atomare Bewaffnung der Schweiz schrieb, thematisierte er die mögliche Apokalypse einer atomaren Auseinandersetzung und die Mitverantwortung der Wissenschaft. Und wie haben wir kritischen Jugendlichen ihn geliebt, als er sich in seinem „Schweizerpsalm III“ mit beißender Schärfe der hurrapatriotischen Überhöhung der Rolle seines Landes im Zweiten Weltkrieg entgegenstellte. Wir waren aufgewachsen mit der in Bronze gegossenen Mär vom „Igel Schweiz“, der sich der braunen Flut heroisch zur Wehr gesetzt hat, und nun kommt unser Nationaldichter Nummer 1 und sagt: „In Wahrheit wurden wir hauptsächlich/Durch unsere Geschäfte beschützt.“ Was ist aus dir geworden, mein Land?“, seufzte Dürrenmatt in seinem Psalm. „Nur noch deine Bankgeheimnisse sind glaubhaft./…/Wenn du morgens für die Neger in Biafra und/anderswo Geld sammelst/Legst du dich, Bet- und Bettschwester zugleich,/ Abends mit deren Häuptlingen zwischen die Laken/ Deine Waffengeschäfte abschließend/ Damit jene, mit denen du schläfst/ Die abknallen, für die du gesammelt hast./…/ Wehe denen, die anders denken als Du/ Deine Lehrstühle/ Hältst du von jedem Stäubchen Marxismus rein/ Dein Patriotismus ist so steril und keimfrei/ Dass auf seinem Boden wirklich nichts mehr wächst/ Jede neue Idee ist für dich eine Seuche/ So lebst du in ewiger Furcht vor Schnupfen und Masern/ Dabei hast du Krebs, du willst es nur nicht wissen.“ Die Stütze seines Landes, so Dürrenmatt, seien jene, „welche denken/ Nicht jene, die mitmarschieren“ und so widmete er seinen Psalm aus dem Jahr 1970 dem ehemaligen Sekretär der Schweizerischen Friedensbewegung Arthur Villard, der wegen Dienstverweigerung ins Gefängnis musste: „Armer Villard/Das Töten verurteilend/ Wirst du von einem Land verurteilt/ Das aus dem Töten Profit zieht/ Deine Lauterkeit sei unser Vorbild/ Deine Tapferkeit werde die unsrige.“
Dürrenmatt, der den Widerspruch liebte und mit ihm spielte, war selbst eine widersprüchliche Persönlichkeit. Was dem Grass seine Hitlerjugend, war dem 20-jährigen Fritz ein fünfmonatiger Ausflug in die braune „Eidgenössische Sammlung“: Aus pubertärer Opposition gegen die pfarrherrliche Welt seines Vaters, wie er einmal meinte. Irritierend auch seine dezidierte Parteinahme für Israel; seine späteren Aufrufe zur gegenseitigen Toleranz zwischen Israelis und Palästinensern schienen angesichts der dortigen Machtverhältnisse zwischen Besatzern und Besetzten eher beliebig. Doch Dürrenmatt ließ sich Zeit seines Lebens nie gänzlich vereinnahmen, von nichts und niemandem. Beklagte er im September 1968 bei einer Protest-Matinée gegen den Einmarsch fremder Truppen in die CSSR das erratische Denken der Sowjetunion, rief er gleichzeitig dazu auf, den „Krieg gegen die Dogmatiker der Gewalt“ weiterzuführen, ob sie nun die Maske des Kommunismus „oder jene der Demokratie tragen“.
Zeitweise bereitete es ihm wohl gar ein diabolisches Vergnügen, Erwartungen nicht gerecht zu werden. Statt sich am 25. Oktober 1969 artig für die Ehre zu bedanken, den „Großen Literaturpreis des Kantons Bern“ zu erhalten, reichte er ihn noch bei der Verleihung selbst zu je einem Drittel weiter an den Friedenskämpfer Arthur Villard, den Nonkonformisten Sergius Golowin und den Journalisten Paul Ignaz Vogel, alle drei bekannte Vertreter einer vom Establishment ausgegrenzten Linken. Und die Rede anlässlich einer Preisverleihung an Vaclav Havel am 22. November 1990 stellte er gar unter den Titel „Die Schweiz – ein Gefängnis“ und denunzierte darin den Umgang mit den eigenen Dissidenten. Der „Gottlieb-Duttweiler-Preis für Zivilcourage“, den Havel erhielt, sei ein schöner Preis, ein schweizerischer Preis, „aber irgendwie unumkehrbar“. Er könne sich nicht vorstellen, dass einem schweizerischen Dienstverweigerer ein Vaclav-Havel-Preis für Zivilcourage verliehen würde.
Ich bin mit der Lektüre von Dürrenmatt aufgewachsen. Natürlich habe ich auch „Andorra“ von Max Frisch verschlungen und mit Andri mitgelitten. Aber wenn mich später mit dem Philosophen aus Zürich politisch mehr verband als mit dem Hedonisten aus Neuchâtel, so stand mir als Jugendlicher das Geerdete, Bodenständige von Dürrenmatt näher. Dürrenmatt war für mich die deftige Schlachtplatte und Frisch das Lachsbrötchen, der laute Stammtisch mit frisch gezapftem Bier und einem Stumpen versus das gepflegte Kamingespräch mit Cognacschwenker und Pfeifenrauch. Irgendwie irdischer halt.
Nach meinem zweiten Besuch in Dürrenmatts Villa begleitete mich seine Tochter Ruth ins Städtchen hinunter. Wir sprachen über dieses und jenes und auch über die Schule. Was sie denn in der Schule am Liebsten mache, fragte ich die 14-Jährige. „Am liebsten verprügle ich Jungs“, meinte sie. Auch irgendwie irdisch.
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