Ein knapper, charakteristischer Text Volker Brauns trägt den Titel „Der Eisenwagen“. Es ist eine kurzgefasste Geschichte der sozialistischen Revolution, wie der Verfasser sie sieht. Ein Ich-Erzähler berichtet, wie er mit anderen zusammen einen Wagen besteigt. Er sieht „ein Gedränge, aufsässige begeisterte Ansässige, wir luden sie zum Mitfahren ein“. Das Gelände wird schwierig, das Fahrzeug gerät unter Beschuss, es gibt erste Verluste. „Wir mussten den Wagen umbaun, mit Eisenplatten bestücken, im Innern Deckung suchen, nur durch Luken herauslugend -rufend -schießend. Schießen auf wen? wen rufend? In diesen dröhnenden Panzer verpackt, den wir uns nicht ausgesucht hatten. In dem wir verbleiben mussten, solange dieser Kampf dauerte.“
Der Wagen hält stand, und die Besatzung lernt ihn schätzen. Die Ausrüstung ist nicht modern, aber wirksam, auch in den schwierigen Gegenden, die man danach zu durchqueren hat. Freilich erlaubt das Gefährt keine Kommunikation mit dem Außen. So stellt sich die Frage: „Was für eine Rolle spielte ich – die des Befreiers oder die des Unterdrückers?“ Verräter werden aus dem Fahrzeug geworfen und von den Rädern zermalmt, der Eisenwagen hinterlässt eine Blutspur. Die übriggebliebene Besatzung begnügt sich mit Mutmach-Propaganda, drinnen entbrennt ein Karrierekampf um die besten Plätze. Derweil verkommt der Wagen zu einer dreckigen, ratternden, entsetzlichen Maschine, deren Metall den Menschen ins Fleisch wächst. Sterbend verabschiedet das Ich Lenins Frage „Wer wen“ als eine „aus dem Spielchen der letzten Jahrtausende“. Für das Ich ist keine Rettung: „Der Wagen würde mein Mausoleum sein, mein Grab. Eine ehrliche, eine eindeutige Lösung, was mich betraf; die andern mussten die ihre finden.“
In seinen ersten Werken hatte Braun die Entwicklung der DDR noch optimistisch begleitet. Die Erzählung „Der Schlamm“, Stücke wie „Die Kipper“ oder „Hinze und Kunze“ thematisierten die Produktion, durchaus mit Blick auf ungelöste Konflikte. Die aber galten Braun, der in seinem Philosophiestudium Marx und Hegel gründlich kennengelernt hatte, nicht als Mangel, den man tunlichst wegreden sollte, sondern als Voraussetzung jeder Entwicklung. Das Denken in Widersprüchen ist Grundlage von Brauns Ästhetik, bis ins sprachliche Detail; durch Luken lugend, aufsässige Ansässige – die Beispiele ließen sich fast unendlich vermehren.
Dazu tritt ein Denken in historischen Kategorien. Wenn eine Erzählung von Braun „Unvollendete Geschichte“ heißt, so spielt er mit dem Doppelsinn von der individuellen Geschichte, die er erzählt, und den Perspektiven der allgemeinen Geschichte. Das Besondere ist bei Braun stets mit dem Allgemeinen verknüpft. Von Geschichtsbewusstsein zeugt auch das Maß, in dem er die Literaturgeschichte nicht nur kennt, sondern verarbeitet. Viele Zitate (oft abgewandelt), aber auch strukturelle Übernahmen aus klassischen Werken zeugen davon, dass Braun eine Tradition fortsetzt – und zwar nicht durch Wiederholung, sondern indem er wie sein Vorbild Brecht das Alte als Material verwertet.
Bis 1989 war Braun ein DDR-Autor nicht nur, weil er dort lebte, sondern weil die DDR sein Thema war. Er litt unter der Stagnation in ihrer Schlussphase (die später unter dem Titel „Werktage“ veröffentlichten Notate zeugen davon). Gorbatschows Perestroika bot aus seiner Sicht wieder Hoffnung – die Verabschiedung von Lenins „Wer wen?“ im „Eisenwagen“ steht für diesen Ansatz Brauns. Der Gedanke, man könne zusammen mit dem Imperialismus globale Probleme lösen, kann von Marxisten nur in einem Zustand tiefer Verzweiflung erwogen werden. Er hat dann auch zu nichts Gutem geführt.
Nach 1990 stand Braun ohne Land da. Die DDR war der Stoff gewesen, mit deren Widersprüchen er gearbeitet hatte, bis hinein in die Einzelheiten ihrer politischen Sprache, die er virtuos hin- und herzuwenden verstand. Das Neue, über das es nun zu schreiben galt, war ihm zunächst fremd. Zwar verstummte er nicht, doch veränderte sich sein Schaffen. Das Theaterstück als jene literarische Gattung, die am ehesten auf Öffentlichkeit zielt, trat in den Hintergrund. Weiterhin schreibt Braun Gedichte, und an Bedeutung gewann die Prosa: Literatur für Vereinzelte, für die Schrumpfform von Öffentlichkeit im Kapitalismus.
Immer noch hofft Braun auf die Revolte von unten. Er schildert das Aufbegehren gegen Machenschaften der Treuhand („Die hellen Haufen“, 2011) und eine utopische kommunistische Selbstverwaltung im sächsischen Schwarzenberg 1945, einige Wochen zwischen dem Abzug von US-Truppen und der Übernahme durch die Rote Armee („Das unbesetzte Gebiet“, 2004).
Brauns Misstrauen gegen eine Organisation von oben bleibt. Er ist nicht wie Brecht ein Kommunist außerhalb der Partei, sondern begreift sich als Marxist, indem er eine leninistische Partei ablehnt. Dabei verschweigt er weder die Probleme der Selbstorganisation noch deren fehlende Machtperspektive. Weiterhin will er Widersprüche durchdenken. Dazu arbeitet er ihre geschichtliche Perspektive heraus, und das schließt bei ihm meist auch einen Blick auf die Literaturgeschichte ein.
Er schreibt keine historischen Romane, sondern konzentrierte Texte, aufs Wesentliche beschränkt, inhalts- und beziehungsreich. Man muss sehr viel wissen, um alle ihre Schichten zu erfassen. Vielleicht ist Braun deshalb einer der sehr wenigen Marxisten, die sich im offiziellen Literaturbetrieb halten konnten: Die fürs Verständnis nötigen Voraussetzungen beschränken die Wirkung. Auch durchzieht Skepsis gegenüber der Macht sein Werk – so mag die Bourgeoisie ihre Gegner.
Ist dies ein Geburtstagsgruß? Wer Widersprüche schreibend herausarbeitet, sollte Widerspruch annehmen. Brauns Werk ist sprachlich dicht, erfüllt von geschichtlichem Bewusstsein und beschädigt von erlebter Geschichte. Wie er mit der Vergangenheit arbeitete, so kann man mit seinen Texten arbeiten.