Manchmal frage ich mich, was die puristischen Visionäre der kommunistischen Bewegung China seinerzeit geraten hätten, als Deng Xiaoping die Öffnung durchsetzte und kapitalistische Unternehmen einlud, unter dem Schutz und der Herrschaft der Kommunistischen Partei des großen Landes Profite zu machen und die Wirtschaft zu entwickeln. Sollte China den schon erreichten Sieg über die Kolonialmächte riskieren und einen aussichtslosen Weg gehen, indem man versuchte, Anschluss an die Produktivkraftentwicklung durch ausschließlich eigene Kraft zu schaffen? Sollte China mehr Wert auf einen niedrigen Gini-Koeffizienten legen als auf die Ausrottung der absoluten Armut? Denn das ist dem Entwicklungsland China gelungen, das – als es sich vom Kolonialjoch befreite – zu den ärmsten Ländern der Welt gehörte. Die allermeisten anderen Entwicklungsländer sind weit davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Im Gegenteil: Vielerorts hat die absolute Armut zugenommen. Was wäre also der Ratschlag an China gewesen? Den sowjetischen Weg zu beschreiten, wird eingeworfen. Wäre damit die kommunistische Unschuld zu bewahren gewesen? Wohl kaum. Auch der sowjetische Weg hat außerordentliche Opfer gefordert. Formal war dieser Weg ausbeutungsfrei. In Wirklichkeit mussten enorme Mittel durch Erhöhung der Mehrarbeit in die Entwicklung der sachlichen Produktivkräfte fließen. Industrialisierung ist kein Spaziergang – nicht im Sozialismus, schon gar nicht im Kapitalismus.
Nein, die Ausbeutung ist in China nicht abgeschafft, sondern wurde ausgeweitet und intensiviert. Und die Konkurrenz begann auch nicht – wie in den europäischen sozialistischen Ländern – erst außerhalb der Grenzen. Ausbeutung und Konkurrenz sind keine sozialistischen Kennzeichen. Sozialistisch ist eine planmäßige Entwicklung – und die Chinesen haben offenbar keine Angst vor den Widersprüchen, die aus Warenproduktion einerseits und Planung andererseits entspringen. Der Erfolg gibt ihnen recht: Ihre Planziele erreichen sie in erstaunlichem Umfang. Sozialistisch ist ihr Bildungs- und Gesundheitssystem, das auch internationalistisch ist. Heute studieren mehr Afrikaner in China als in Europa und den USA. Bedeutende Erfolge wurden beim Schutz und der Verbesserung der Umwelt erreicht. Kein kapitalistisches Land kann hier ähnliche Ergebnisse vorweisen.
China hat den Sozialismus immer noch auf der Tagesordnung, nicht nur im Sinn. Es ist nicht nur ein Wollen, sondern ein Tun – jeden Tag. Der Kommunismus im Westen hat dagegen wenig Ergebnisse vorzuweisen. Vielleicht ist das so, weil er mehr um die Reinheit der Lehre besorgt ist als um wirkliche Fortschritte? Der osteuropäische Sozialismus ist untergegangen, untergegangen aufgrund der Stärke und Aggressivität des imperialistischen Westens, aber auch infolge eigener Fehler. „The proof of the pudding is in the eating“, zitierte Engels einst ein englisches Sprichwort.
Zum Abschluss: China kann man nicht betrachten (wie überhaupt kein Land), ohne die Klassenkämpfe zu berücksichtigen. „Eine konkrete historische Situation und vor allem eine große historische Krise ist jedoch durch die Verschränkung vielfältiger und widersprüchlicher Klassenkämpfe charakterisiert.“ (Losurdo, Klassenkampf, S. 33) Kämpfe zwischen Proletariat und Bourgeoisie, zwischen unterdrückten Nationen und den Kolonialmächten und zwischen den Fraktionen der Bourgeoisie. Auch Klassenkampf innerhalb Deutschlands kann unmöglich ohne die heute vor allem internationalen Kämpfe geführt und betrachtet werden. Es kämpft die angeschlagene Hegemonialmacht USA gegen China und scheint deutlicher als die Linken im Westen den Charakter des Landes und die Bedrohung, die von ihm für den Imperialismus ausgeht, zu erkennen. Die Hegemonialmacht kämpft auch gegen Deutschland, wie wir schmerzvoll an den Pipelines erkennen durften. Klassenkampf gegen die „eigenen“ Kapitalisten darf nie die Sicht dafür nehmen, dass wir den wichtigsten Klassenfeind mit China teilen.