Mit Texten von Inge Viett, die als RAF-Aussteigerin acht Jahre in der DDR lebte, und einem Interview mit Dieter W. Feuerstein, der im Westen als „Kundschafter des Friedens“ für das Ministerium der Staatssicherheit der DDR arbeitete, führen wir in dieser Ausgabe unsere Reihe zu Ursachen und Folgen der Konterrevolution fort. Der folgende Text stammt aus Vietts Autobiografie „Nie war ich furchtloser“, die 1997 in der Edition Nautilus erschienen ist. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung, den Text abdrucken und zwei Kapitel des Buches unter www.unsere-zeit.de dokumentieren zu dürfen.
Dass ich im kapitalistischen Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kann ich weder bedauern noch gutheißen, aber es ist ein kaum zu beschreibendes Glück, dass der Verlauf meiner Geschichte meine Unwissenheit über das andere Deutschland korrigierte, über das Leben dort im ständigen Widerspruch zwischen Verwirklichung und Verkümmerung sozialistischer Ziele, Ansprüche und Lebensweise, über die Anstrengungen, die Ideale, Fähigkeiten und Unfähigkeiten, die Wahrheiten und Irrtümer, die diesem Widerspruch entsprungen und von ihm gezeichnet sind. Nur wer dort gelebt hat, kann begreifen, was zerstört wurde.
Die Linken im Westen haben keinen Begriff davon, wie schwer ihr Mangel an Erfahrung mit der sozialistischen Realität wiegt. Die Geschichte wird ihnen keine neue Gelegenheit bieten. Sie denken in ihrem Hochmut sogar, dass sie es sich leisten können, dies gar nicht als Mangel erkennen zu müssen. Der reale Sozialismus ihrer Zeit, vor ihrer Tür, in der DDR, war für sie die einzige Chance, jemals zu erfahren, wie die Idee vom Sozialismus, also das Ideal, real gesellschaftlich wirksam werden kann und wie nicht. Sie zogen es aber vor, sich von diesem geschichtlichen Prozess zurückzuziehen – ihn aus der Ferne zu benörgeln, zu bemängeln, zu belächeln. (…) Sie haben die Chance verpasst, diesen großen historischen Versuch, aus der Kapitalgeschichte wieder Menschengeschichte werden zu lassen, sinnlich und politisch zu begreifen.
Ich weiß, die meisten sehen es nicht als verpasste Chance. Sie sagen aus ihrer autistischen Wahrnehmung heraus: „Igitt, ich hätte da nicht leben mögen.“ (…) Sie interessieren sich nur für die fehlgelaufenen, steckengebliebenen Prozesse, die Eiterschwären, die dunklen Ecken, in die Missratenes geschoben wurde. Absurdes spüren sie auf als Zeugnis ihrer Beweisführung, dass böse Menschen 40 Jahre zu Werke gingen, ihre schönen Ideen zu verhunzen. Am realen Sozialismus hat sie einzig das Nicht-Sein von Sozialismus interessiert und mit diesem Interesse bestreiten sie fortwährend die Möglichkeit eines sozialistischen Daseins überhaupt. Jede positive Erfahrung wurde ihrer Entwertung unterworfen. (…)
Meine acht Jahre in der DDR waren zu kurz, auch nur einen Tag Langeweile zu haben, zu kurz, der Widersprüche überdrüssig zu werden, zu kurz auch, den Optimismus für eine Weiterentwicklung zu verlieren und ein derartig desaströses Unterliegen zu erwarten. Aber sie waren lang genug, Verbundenheit zu schaffen und mitverantwortlich zu sein für die Höhen und Abgründe, für Misslungenes und Gelungenes im geschichtlich einzigartigen Kampf für und um die Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft. Die Verwertung und Vernichtung der DDR, die Auslöschung sozialistischer Existenz, ihrer Inhalte, Strukturen, sozialer Sicherheiten, der tiefe Sturz der Menschen in die soziale und politische Unwürdigkeit, in die existenzielle Desorientierung, in Erniedrigung und Brutalisierung ist viel gemeiner und quälender als die Vernichtung meiner persönlichen Freiheit, die damit zusammenhängt.
Ich bin parteilich, subjektiv und emotional. Nur auf diese Weise hab ich mir eh und je die Welt erschlossen, mich den Menschen zugewandt und haben sich die Menschen mir zugewandt. Ich sehe keinen Grund, den historischen Verlauf der Geschichte und meine eigene darin eingebettete Lebenszeit mit den Augen der derzeitigen Triumphatoren zu betrachten. Es sind die Augen von Betrügern, Dieben und Räubern, deren kollektives System davon lebt, sich über das Schwächere herzumachen.
Fehler und Irrtümer zu erkennen bedarf weder der Distanzierung noch des Konvertitentums, das sind Unterwerfungsrituale, sie beschädigen die Würde und die Wahrheit. Nicht grundsätzlich, aber dort, wo das Erkennen sich als Machtverhältnis vollzieht.
Wenn die erste Welle kapitalistischer Zumutungen überstanden ist, werden sich die Erinnerungen melden, die Erfahrungen sich auf sich selbst berufen, und die tausendmal gesagten Denunziationen werden ihre Wirkungen verlieren. Die Menschen werden das zerstörte gesellschaftliche Fundament gerechter und humaner nennen, sie werden es als solches wieder mit Sozialismus identifizieren und sie werden vom Kapitalismus erfahren haben, dass ein sozialistisches gesellschaftliches Fundament menschlicher und nötiger ist, weil es die Menschen davon abhält, sich gegenseitig niederzuringen, auszubeuten und zu erniedrigen.
Grundqualität des Seins
Als ich in die DDR kam, war ich in höchstem Maße verblüfft von dem Selbstbewusstsein, der Lockerheit und der Souveränität, mit der sich die DDR-Bürgerinnen und -Bürger in ihren Arbeits- und Funktionsbereichen bewegten. Wie sie darin lebten. Ich rede hier nicht von Leitungs- und Funktionärsebenen, da sieht’s wieder anders aus, sondern von meinen Erfahrungen in den Basiskollektiven der Produktion und Verwaltung. Dieses Verhältnis zur Arbeit erklärte sich mir bald aus der Befreiung von Konkurrenz und Existenzangst und dem hohen gesellschaftlichen Stellenwert der Arbeit im moralischen Sinn. Die soziale Sicherheit war die Grundqualität des Seins in der DDR. Wenn ich von der Hass-Liebe spreche, die Heiner Müller als Burgfrieden bezeichnet, ist diese Grundqualität auf jeden Fall ein Teil der Liebe und beantwortet die immer wieder gestellte dümmliche Frage der BRD: Wieso konnte sich DDR überhaupt solange halten?
Ein weiterer Teil war der humanistische Anspruch der DDR, denn wer konnte sich nicht mit Zielen identifizieren wie die Schaffung einer Gesellschaft, in der keiner zurückbleibt, Chancengleichheit für alle, Solidarität mit den unterdrückten Völkern, Kampf gegen Faschismus, gegen Krieg – doch nur ausgemachte Lumpen und Egoisten. Dies waren Erziehungsinhalte, in welcher Form auch immer. Sie haben 40 Jahre lang die Bildung, Literatur, Kunst, Musik und das tägliche Leben mitgeprägt, sind Identität geworden.“
Auszug aus einem Brief von Inge Viett an Jutta Oesterle-Schwerin, August 1990, „Einsprüche! – Briefe aus dem Gefängnis“, Nautilus-Verlag
Inge Viett, geboren 1944, aufgewachsen im Kinderheim und einer Pflegefamilie, kam 1968 nach West-Berlin. Dort beginnt ihr politisches Engagement. Sie ist beteiligt an der Besetzung des Rauch-Hauses und schließt sich der Bewegung 2. Juni an. Sie ist beteiligt an der Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz. 1975 wird sie verhaftet, im darauffolgenden Jahr gelingt ihr die Flucht. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Kontakte zum Ministerium für Staatssicherheit der DDR, mit dem Viett seitdem im regelmäßigen Kontakt stand. Sie schloss sich 1980 der RAF an, organisierte die Übersiedlung von acht RAF-Aussteigerinnen und Aussteigern in die DDR. Zwei Jahre später entschied sie sich, selbst den bewaffneten Kampf aufzugeben und an der Realisierung des Sozialismus in der DDR mitzuarbeiten. 1990 wurde sie in Magdeburg verhaftet und zu dreizehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sie war bis 1997 inhaftiert und lebt seitdem bei Berlin.