Zu NoViolet Bulawayos Roman „Wir brauchen neue Namen“

Den eigenen Platz finden

Daniel Polzin

Der erste Roman der jungen simbabwischen Schriftstellerin NoViolet Bulawayo ist ein Entwicklungsroman in doppelter Hinsicht. Einerseits geht es in ihm ums Erwachsenwerden. Andererseits entwickelt das Buch von einer an sich starken, aber letztlich verzerrenden Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrem Heimatland zu einer realistischen Erzählung von Ausgrenzung, Entfremdung und Ausbeutung in den bis heute von Rassismus tief durchdrungenen USA.

Kontinuität und Diskontinuität

Im Mittelpunkt der in etwa zwei gleich große Abschnitte geteilten Handlung steht ein zu Beginn zehnjähriges Mädchen mit dem eher ungewöhnlichen Namen Darling. Wir erleben ihr Aufwachsen in Simbabwe und ihr Erwachsenwerden in den USA. Zwei Welten, deren Unterschiedlichkeit auf eine gewisse Weise zwar zentrales Thema ist, aber nicht im Sinne einer Gegenüberstellung, bei der zwei separate Gegenstände unabhängig voneinander betrachtet werden, sondern eher einer Suche nach Verbindungen zwischen diesen scheinbar so unterschiedlichen Welten. Wo gibt es Kontinuitäten unter einer Oberfläche aus Diskontinuitäten, wo Umbrüche unter einer Schicht aus Abbrüchen? Wird dies bei einigen Kapiteln auch weniger deutlich, ist insgesamt ein Streben nach Einheitlichkeit zu erkennen, das falschen Vereinfachungen in dieser Hinsicht vorzubeugen vermag. Doch wie sehen die beiden Welten konkret aus?

Darlings erste Welt ist geprägt durch Hunger, Gewalt und Unwissen. Es ist das bedrückende Bild einer Gesellschaft, in der rückständige Verhältnisse, von religiösem Fanatismus über fehlende Schulbildung und medizinische Versorgung bis zu unfreien Wahlen, fest verankert sind. Es ist das Bild einer mehrheitlich schwarzen Bevölkerung, die nach dem Erlangen der Unabhängigkeit des Landes große Hoffnungen hatte, die aber allesamt unter dem Joch eines nun schwarzen Diktators blutig zerstört wurden. Und es ist das Bild eines scheinbar einflusslosen Westens, der in Gestalt von NGOs und BBC-Reportern gönnerhaft bis voyeuristisch auftritt. Was die in Simbabwe geborene und seit ihrem achtzehnten Lebensjahr in den USA lebende Bulawayo in ihrem fiktiven Roman darstellt, ist durchaus authentisch. Authentisch in dem Sinne, dass es auf tatsächlichen Ereignissen beruht oder zumindest unter den tatsächlich vorgefundenen Bedingungen so passiert sein könnte. Das allein schafft aber noch kein realistisches, das heißt die tatsächlichen Zusammenhänge widerspiegelndes Bild. Bestimmte Umstände bleiben unerwähnt, die zum Verständnis des Dargestellten, zur Erfassung der objektiven Verhältnisse unbedingt notwendig wären. So bleibt die Rolle der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien nebulös. Der Reichtum der weißen Minderheit wird zwar gezeigt, aber die Bedeutung der Tatsache, dass sie auch nach der Unabhängigkeit weiterhin über den Großteil des fruchtbaren Bodens und wichtiger Produktionsmittel verfügte, bleibt ausgespart. Als positive Alternative zur korrupten Regierung inszeniert Bulawayo die „Change“-Bewegung, ohne zu erwähnen, dass deren Programm letztlich auf die Wiederherstellung der ehemaligen Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse sowie die Einordnung in das neokoloniale westliche Weltwirtschaftssystem hinausläuft. Und schließlich muss sich die Autorin die Frage gefallen lassen, ob die Rolle der Volksrepublik China – so kritisch sie durchaus zu sehen ist – durch einen chinesischen Bauleiter, der, nachdem er sich soeben noch mit zwei schwarzen Prostituierten vergnügt hat, erklärt, China baue keine Schulen, Krankenhäuser oder Wohnungen, sondern Shopping-Center, wirklich realistisch wiedergegeben ist.

Eine Mauer aus Rassismus

Ungefähr in der Mitte des Buches wird Darling von ihrer Tante in die USA geholt und die sie umgebende Welt wechselt. Gewalt – wenn auch häufig in indirekterer Form – und Unwissen prägen auch diese Welt, nur der Hunger wurde durch ein Gefühl des Verlorenseins, den Hunger nach einem Halt im Leben ersetzt. Das Bewusstsein über die gesellschaftliche Bedingtheit ihres Daseins bricht sich in der einen oder anderen Form Bahn und stellt sie vor die Aufgabe, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden oder aber ihren vorgezeichneten Platz einzunehmen. Dieser Platz ist der einer Ausgegrenzten, einer geistig und materiell Unterdrückten. Macht sie sich auf die Suche nach einem eigenen Platz, stößt sie auf eine Mauer aus Rassismus. Rassismus im Alltag, Rassismus auf der Arbeit und Rassismus im politischen Leben. Da vielen aus Afrika Eingewanderten ein legaler Aufenthaltsstatus verwehrt wird, ist ein Leben in Unsicherheit und Ausbeutung für die meisten unausweichlich. Als Illegale befinden sie sich selbst in ihrer, der Arbeiterklasse, am untersten Ende, dem wegen fehlenden Klassenbewusstseins allzu schnell auch von den eigenen Klassengefährten falsches Machtgefühl statt Solidarität entgegengebracht wird.

In dieser Situation vermag die Erinnerung daran, dass es noch das Land ihrer Kindheit gibt, so unsicher und elend das Leben dort auch war, eine unbestimmte Hoffnung zu entfachen. Es ist ein Land, mit dem sie sich verbunden fühlte, das zumindest die Aussicht bot, in den Reihen Gleichgesinnter für etwas zu kämpfen, für das es sich zu kämpfen lohnte. Doch spätestens ein Telefongespräch mit einer ihrer Kindheitsfreundinnen führt ihr vor Augen, wie weit sie sich inzwischen auch vom Leben in ihrer Heimat entfernt hat. Selbst wenn sie zurückkönnte, wäre die soziokulturelle Kluft nach all den Jahren in den USA enorm. Und so zeigt sich Darling die Welt an der Schwelle zum Erwachsenenleben als eine feindliche, eine, in der sie sich zwischen Vereinzelung, Unterdrückung und Entfremdung mühsam ihren Platz wird erkämpfen müssen.

Auszubauende Ansätze

Insgesamt erweist sich der durchweg sprachlich und atmosphärisch gelungene Entwicklungsroman im zweiten Teil als überzeugender, weil realistischer. Die guten Ansätze dahingehend, die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse in der Darstellung konkreter Situationen umfassend zu berücksichtigen, werden von Bulawayo im Laufe des Buches ausgebaut, wenn auch nicht perfektioniert. Dass bei der Darstellung der simbabwischen Gesellschaft von der Autorin letztlich ein subjektives (Teil-)Bild gezeichnet wird, das nahezu eins zu eins mit der von EU und USA propagierten Sichtweise korreliert, die weniger der objektiven Wahrheit als den Interessen der dort ansässigen Konzerne verpflichtet ist, bleibt ein Schwachpunkt des Werkes. Doch selbst dieses subjektive Bild ist zweifellos von hohem Erkenntniswert. In jedem Fall bleibt es Bulawayo hoch anzurechnen, dass sie sich mit solch einem kritischen Werk in den Löwenkäfig der materiell auf Profit orientierten und ideologisch die Ideen der herrschenden bürgerlichen Klasse reproduzierenden Literaturwelt begeben hat. Schafft sie es, diesem Einfluss nicht zu erliegen, können wir sehr gespannt auf ihren zweiten Roman sein.


Mit freundlicher Genehmigung der Literaturzeitschrift „nous“, der gesamte Beitrag ist online auf der Webseite von „nous“ zu finden

NoViolet Bulawayo,
„Wir brauchen neue Namen“,
Suhrkamp Verlag, 264 Seiten,
21,95 Euro

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"Den eigenen Platz finden", UZ vom 10. Juli 2020



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