Larraíns „Neruda“ ist kaum mehr als ein postmoderner Abgesang

Demontage

Von Klaus Wagener

Der Dichter (Luis Gnecco), der „Neruda“ genannt wird, ist auf der Flucht. Es soll eine wilde, dramatische Flucht sein. Der Dichter hat einen Hang zur Theatralik und zur Selbstinszenierung. Und natürlich zu den Frauen und zum Alkohol. Reichlich Alkohol und reichlich Frauen. Beides vorzugsweise unter der Rezitation eher einfältiger Gedichte im Bordell. Der, soll man sagen „Salonbolschewik“, hat den Staatspräsidenten (Alfredo Castro) des Landesverrats an das Imperium im Norden bezichtigt. Der Präsident schlägt zurück. Der Dichter verliert seine Immunität als Senator. Der Polizist Óscar Peluchonneau (Gael Garcia Bernal) soll ihn verhaften. Die Flucht des Dichters, eher extravagant denn dramatisch, bezieht seine Wildheit allenfalls aus der Berglandschaft im Süden Chiles.

„Neruda“, das macht Regisseur Pablo Larraín schon sehr früh klar, hat mit der historischen Figur des chilenischen Dichters Pablo Neruda und mit den Ereignissen der Jahre 1948 ff. nicht gerade viel zu tun. Der Dichter ist eine Projektion seines Verfolgers Peluchonneau, wie auch Peluchonneau eine Projektion des Dichters ist. Und beide eine Projektion des Regisseurs. Der Film-Neruda ist ziemlich genau so, wie sich ein nicht sonderlich gebildeter, stramm antikommunistischer Polizist (und mit ihm auch der Regisseur?) einen kommunistischen Dichter und Senator vorstellt. Maßlos, hedonistisch, selbstverliebt, pathetisch. Peluchonneau ist ein dürftiger Niemand, chronisch erfolglos, zwischen grotesker Selbstüberschätzung und Versagensängsten schwankend, sich in die Unsterblichkeit geschleudert fühlend, durch die schwindelerregende Aufgabe den weltberühmten Dichter jagen zu können.

Das reale Leben, der Überlebenskampf der Compañeros, der Kommunistischen Partei, erscheint für den Dichter nur als Stoff für seine Verse von Interesse und für den Regisseur nur als Hintergrundfolie seines Films. Sichtbar ist nur der beständige, zähe Kampf der Genossen gegen die Exzentrik des barocken Dichters, der schlicht die Erfordernisse der Untergrunddisziplin ignoriert und weder auf Alkohol noch auf Huren verzichten mag. Zwar wird in einer kurzen Einblendung Augusto Pinochet als Kommandant eines Konzentrationslagers in der Wüste gezeigt, aber auch diese Szene hat, wie der ganze Film, einen eher fiktionalen, literarischen Charakter. Sie sind eher Zitat als realistische Handlung.

„Im Namen dieser Toten, unserer Toten fordre ich Strafe“, lässt Larrìn seinen „Neruda“ aus dem „Canto General“ rezitieren „für den Henker, der dieses Sterben befahl, fordre ich Strafe.“ Es sind Verse voller Anteilnahme, Abscheu, Wut und Verachtung, gedichtet für die Opfer des Massakers vom 28. Januar 1946 an friedlich demonstrierenden Salpeterarbeitern. Hier hatte der zunächst linksreformistisch auftretende Staatspräsident Videla seine Kehrtwende, seinen „Verrat“, wie Neruda es ausdrückt, vollzogen. Neruda, der Videla bis dahin unterstützt hat, wird nun zu seinem scharfen Kritiker. Larraìn lässt den historischen Hintergrund im Dunklen und reißt auch die Verse aus ihrem textlichen Zusammenhang, so dass sich der Eindruck des überheblichen Selbstdarstellers verfestigt.

Geht es dem Regisseur um die Inszenierung einer wilden, dramatische Flucht, um einen Zweikampf des Dichters mit seinem Verfolger, darf der klassische Showdown nicht fehlen. Der gewählte Ort, die verschneite Kordillere im Grenzgebiet zwischen Chile und Argentinien, sorgt für die ultimativ-endzeitliche Stimmung. Der Berg als Schicksals- und Entscheidungsort ist spätestens seit Leni Riefenstahl und Luis Trenker eine feste Größe. Doch in „Neruda“ gerät auch er zum Vehikel der Dekonstruktion. Der stark übergewichtige Dichter schafft es kaum aufs wenig begeisterte Pferd. Die finale Showdown-Dramatik wird von unfreiwilliger Komik und leerer Theatralik ausgestochen. Wieder einmal scheitert der Verfolger. Der Dichter entkommt. Er entkommt, um sich von der Bohème des existentialistischen Nachkriegs-Paris für seine Heldentaten feiern zu lassen. Hier darf Pablo Picasso den offensichtlich naiven Claqueur geben.

Bemerkenswert ist an „Neruda“ wie weit sich Larraíns Phantasieproduktion von den realen Ereignissen im Chile des beginnenden Kalten Krieges, seiner leidenden und kämpfenden Menschen und ihres Dichters Pablo Neruda entfernt hat. Traditionell gilt das Biopic (Thatcher, J. Edgar Hoover et al.) als eine Domäne rechtskonservativer Heiligenverehrung. Larraín hat gezeigt, das Hineinmenscheln funktioniert auch als Dekonstruktion. Zwar kann auch er den Kommunisten Neruda nicht zerstören, aber er versucht ihm die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit zu nehmen. Den engagierten Ernst eines Dichters angesichts bitterster Armut, existentieller Kämpfe und einer Welt am Abgrund der atomaren Zerstörung. So etwas mit letztgültigem Anspruch „Neruda“ zu nennen ist mehr als Etikettenschwindel. Nichts darf bleiben. Auch nicht die Erinnerung.

„Preise, vergänglich wie eines Schmetterlings Blütenstaub … Mein Preis ist jener große Augenblick in meinem Leben“, schreibt Neruda in seinen Memoiren, „als aus der Kohle von Lota, unter der prallen Sonne der versengenden Salpeterhalde, aus dem lotrechten Stollen, als tauche er aus der Hölle, ein Mann heraustrat, das Gesicht von der furchtbaren Arbeit verzerrt, die Augen rot vom Staub, und, mir die verhärtete Hand entgegenstreckend, die Hand, die mit ihren Schwielen und Furchen die Landkarte der Pampa war, mit leuch­tenden Augen sagte: ‚Ich kenne dich seit langem, Bruder.’“

An Preisen mangelt es dem „Ausnahmeregisseur“ Pablo Larraín sicher nicht. Die Mainstream-Presse lobt seinen Film überschwänglich. Er dürfte gute Aussichten haben, im Flitter des Auszeichnungszirkus zu reüssieren. Hier hat man die Erfordernisse des Klassenkampfes wie des Kommerzes gleichermaßen im Auge. Ob ihm aber einer jener großen Augenblicke vergönnt sein wird, von dem Pablo Neruda erzählen konnte, erscheint doch mehr als fraglich.

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"Demontage", UZ vom 3. März 2017



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