In diesen Tagen fanden die Abonnentinnen und Abonnenten der „Marxistischen Blätter“ das aktuelle Heft in ihrem Briefkasten. Die Redaktion hat diesmal das Thema „Freiheit“ als Schwerpunkt gewählt: „Im Fokus dieser Ausgabe steht (…) die (Neu-)Vermittlung von weltanschaulichen Basics unserer Freiheits- und Rechtsauffassung.“ Hannes und Helmuth Fellner leisten eine grundsätzliche Begriffsbestimmung im marxistischen Sinn, Arnold Schölzel beschäftigt sich mit „Freiheit und Demokratie in heutigen ideologischen Kämpfen“ und der Frage „Hatte Marx eine Menschenrechts-Theorie?“ geht Hermann Klenner nach. Wir dokumentieren – in redaktioneller Bearbeitung – in dieser Ausgabe der UZ Auszüge aus dem Beitrag von Achim Bigus. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung. Zu beziehen sind die „Marxistischen Blätter“ unter neue-impulse-verlag.de.
Am 19. Juli 1952 beschloss die bürgerlich-konservative Mehrheit im ersten Deutschen Bundestag (CDU/CSU, FDP und „Deutsche Partei“) gegen die Stimmen von SPD und KPD das Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG). Die Feststellung, mit der umfassenden Reform 1972 durch die SPD/FDP-Koalition unter Willy Brandt sei dieses Gesetz „in einigen Punkten novelliert, aber in seinen sozialpartnerschaftlichen Grundzügen nicht angetastet“ worden, gilt – trotz vieler konkreter Verbesserungen – auch für alle späteren Novellierungen. Worin bestehen diese „sozialpartnerschaftlichen Grundzüge“?
Der Betrieb ist unter kapitalistischen Verhältnissen nicht nur eine Arbeitsstätte, sondern immer auch ein „Ort sozialer Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Betriebsleitung“, ein „Kampfplatz, auf dem ständig, sichtbar oder verdeckt, schärfer oder schwächer, dieser Interessengegensatz ausgetragen wird“. Das Betriebsverfassungsgesetz regelt die Formen dieser Auseinandersetzung.
Mitbestimmung …
Der Betriebsrat hat Mitbestimmungsrechte vor allem in „sozialen Angelegenheiten“ (Lage der Arbeitszeit, vorübergehende Verlängerung oder Verkürzung der Arbeitszeit, betriebliche Urlaubsplanung, Arbeits- und Gesundheitsschutz, betriebliche Sozialeinrichtungen) sowie bei personellen Einzelmaßnahmen (Einstellung, Eingruppierung, Umgruppierung und Versetzung). Die Unternehmensleitung kann in diesen Angelegenheiten nicht allein entscheiden, sondern nur mit Zustimmung des Betriebsrats. Wenn die Betriebsparteien sich nicht einigen, dann entscheidet in letzter Instanz entweder eine betrieblich zu bildende „Einigungsstelle“ (in den „sozialen Angelegenheiten“) oder das Arbeitsgericht (in den personellen Angelegenheiten). Mit diesen „Mitbestimmungsrechten“ scheint der Betriebsrat in den Augen vieler Beschäftigter eine starke Position im Betrieb zu haben, um ihre Interessen wirkungsvoll zu vertreten – auch ohne ihr eigenes Zutun.
Keine Mitbestimmung hat der Betriebsrat in wirtschaftlichen Angelegenheiten, also in den entscheidenden wirtschaftlichen und personellen Unternehmensentscheidungen über Produkte und Produktionsverfahren, Investitionen, Rationalisierung, Schließungen, Personalplanung. Hier hat die Vertretung der Belegschaft lediglich Informations- und Beratungsrechte. Die Entscheidungen treffen dann die Eigentümer und ihr Management allein. Die „Mitbestimmung“ greift dann erst wieder bei den Auswirkungen dieser Unternehmerentscheidungen, zum Beispiel bei der „Sozialauswahl“ der als Folge von Schließungen oder Betriebseinschränkungen dann von Kündigungen Betroffenen.
Während „Demokratie“ also in der Politik zumindest den Anspruch beinhaltet, dass die Wahlberechtigten mit ihren Stimmen Einfluss auf die Zusammensetzung der gesetzgebenden Parlamente und auch der Regierung ausüben können, bezieht sich die „Demokratie“ des Betriebsverfassungsgesetzes – zugespitzt formuliert – nicht auf die Wahl der Regierung, sondern auf die Wahl einer Opposition mit begrenzten Einspruchsrechten.
… Zusammenarbeit …
Die Kehrseite der Beteiligungs- und Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bildet seine Verpflichtung zur „vertrauensvollen Zusammenarbeit“ mit dem „Arbeitgeber“.
Heißt das, Betriebsräte müssten „auf beiden Schultern tragen“? Dies folgern nicht nur „Arbeitgeber“ und ihnen nahestehende Kommentatoren, sondern auch manche Betriebsräte. Dagegen hat das keineswegs gewerkschaftsnahe Bundesarbeitsgericht (BAG) schon mit Bezug auf das Gesetz von 1952 festgestellt, dass „innerhalb dieser Zusammenarbeit der Arbeitgeber seine Interessen, der Betriebsrat die Interessen der von ihm repräsentierten Belegschaft wahrnehmen dürfen und wahrzunehmen haben“. Diese Rechtsprechung hat das BAG mit Blick auf das Gesetz von 1972 bekräftigt und konkretisiert: „(D)as Betriebsverfassungsgesetz setzt diesen Interessengegensatz voraus. Im Betrieb hat der Betriebsrat die Interessen der von ihm repräsentierten Belegschaft wahrzunehmen. (…) Er ist zu vertrauensvoller Zusammenarbeit, nicht aber dazu verpflichtet, die Interessen der Belegschaft zurückzustellen. Damit obliegt dem Betriebsrat eine ‚arbeitnehmerorientierte Tendenz‘ der Interessenvertretung (…).“
… und „Betriebsfrieden“
Diese höchstrichterlich bestätigte „arbeitnehmerorientierte Tendenz“ findet allerdings ihre Grenze in der Konkretisierung der sozialpartnerschaftlichen Lyrik von „vertrauensvoller Zusammenarbeit“ durch die Verpflichtung zur Wahrung des „Betriebsfriedens“: „Arbeitgeber und Betriebsrat haben alles zu unterlassen, was geeignet ist, die Arbeit und den Frieden des Betriebes zu gefährden.“ Insbesondere sind ihnen „Maßnahmen des Arbeitskampfes“ untersagt.
Diese „Friedenspflicht“ wirkt nicht nur ideologisch, wie die „vertrauensvolle Zusammenarbeit“, sondern sehr real als Fessel für den Betriebsrat. Damit hat der Gesetzgeber dem Gremium „Betriebsrat“ das Streikrecht, das wichtigste Recht der abhängig Arbeitenden zur Austragung ihrer Konflikte mit dem Kapital, juristisch aus der Hand genommen.
Gesetzgebung, Rechtsprechung und „herrschende Meinung“ im bundesdeutschen Arbeitsrecht geben nur den Gewerkschaften in Tarifrunden ein „Streikrecht“ – es gibt kein allgemeines Streikrecht, entgegen zum Beispiel der Europäischen Sozialcharta. In Tarifbewegungen lehnt das bundesdeutsche Arbeitsrecht nach den Erfahrungen der Weimarer Republik eine staatliche Zwangsschlichtung ab – doch in betrieblichen Konflikten schafft das Betriebsverfassungsgesetz mit der „Einigungsstelle“ bei Nichteinigung der Betriebsparteien eine andere Art „Zwangsschlichtung“ statt des Streikrechts.
So werden die betrieblichen Konflikte verrechtlicht und kanalisiert.
„Ein schwarzer Tag“
Die unmittelbare Nachkriegszeit war in vielen Betrieben eine „unternehmerlose Zeit“.
Die Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Kräfte forderten damals eine grundlegende „Neuordnung“ und „Demokratisierung der Wirtschaft“. Die Monopolherren als Verantwortliche für Naziregime, Weltkrieg und Nachkriegsnot sollten zur Rechenschaft gezogen werden. Dafür gab es eine Massenstimmung, in Ost und West – in Hessen stimmte in einer Volksabstimmung eine ebenso große Mehrheit für die Enteignung der Kriegsverbrecher wie in Sachsen.
Um diese „Neuordnung von Grund auf“ zu verhindern, machten die Unternehmer zunächst erhebliche Zugeständnisse, wie die paritätische Mitbestimmung in den Aufsichtsräten der Montanindustrie.
Mit dem Betriebsverfassungsgesetz von 1952 stellte der Bundestag juristisch die alten Machtverhältnisse in den Betrieben wieder her. Er verwies die Betriebsräte auf eine deutlich schwächere Position als in früheren Jahren – mit der begeisterten Zustimmung der Unternehmer.
Aus Sicht des DGB dagegen war die Verabschiedung des Gesetzes „ein schwarzer Tag für die Festigung und Fortentwicklung des demokratischen Gedankens in der Bundesrepublik“.
Schärfer noch kritisierte Otto Brenner (damals IG-Metall-Vorsitzender) dieses Gesetz: „Die dem Gesetzeswerk innewohnende Ideologie entspricht einer Zeit, die wir 1945 ein für allemal überwunden glaubten. Ein Textvergleich mit dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20. Januar 1934 macht deutlich, was ich meine. (…) Seit Jahren müssen wir erleben, wie die spezifisch nationalsozialistische Ideologie von der ‚Volks- und Betriebsgemeinschaft‘ dem Gesetz unterschoben wird.“
Schwächen der Gewerkschaften
Der Konflikt um das Betriebsverfassungsgesetz offenbarte auch grundlegende Schwächen der deutschen Gewerkschaften in politischen Auseinandersetzungen. „Was auch in späteren Jahren immer wieder geschah, zum Beispiel in der Bewegung gegen die Remilitarisierung oder gegen die Notstandsgesetze, passierte auch mit der Betriebsverfassung: Auf dem Höhepunkt, als die Proteste ihre größte Breite und Zuspitzung fanden, brach der DGB sie ab. Legalistische und parteitaktische Erwägungen der in der Regel sozialdemokratisch orientierten und organisierten Gewerkschaftsführer gewannen die Oberhand gegenüber der außerparlamentarischen, nicht in den traditionellen Ordnungsbahnen verlaufenden Aktion.“ Dabei rächte sich „die Art, in der der Kampf geführt worden war: ohne echte Beteiligung der Funktionäre auf den unteren Ebenen, geschweige denn der Mitgliedschaft an der Formulierung der Ziele des Kampfes und ohne Mitsprache über dessen Verlauf“.
„Stellvertreterpolitik“
Die Arbeitenden sammelten so über Jahrzehnte in Westdeutschland deutlich weniger Kampferfahrungen als in anderen Ländern. Trotz betrieblicher, sogenannter „wilder“ Streiks in den 1960er- und 1970er Jahren (mit den Septemberstreiks 1969 und der Streikwelle im Sommer 1973 als spektakulären Höhepunkten), trotz großer gewerkschaftlicher Streiks – wie 1978/79 und 1984 (für die 35-Stunden-Woche), zuletzt 2015 und 2018 – war und ist die BRD bis heute eines der streikärmeren Länder in Europa.
Die Folgen beschreibt Robert Steigerwald so: „Wenn sich Arbeiterinnen und Arbeiter daran gewöhnt haben, dass ihre Kastanien durch Vertreter aus dem Feuer geholt werden und sie dazu nicht aktiv werden müssen, sinkt die Kampfbereitschaft. (…) Es bildete sich ein regelrechter Paternalismus heraus. (…) Es ist eben kein Zufall, dass in Deutschland spontane Arbeiterkämpfe selten sind, aber unsere Klassengenossen ‚gehorchen‘, sobald die sie entmündigenden Stellvertreter sie rufen, so wie es sich eben in einer Stellvertreter-Demokratie gehört!“
Wenn die Konflikte von den Betroffenen an „Stellvertreter“ delegiert werden, machen sie nicht immer wieder selbst in den „kleinen“ betrieblichen Konflikten „ums Teewasser“ (Brecht) die Erfahrung: Alle Ergebnisse und Kompromisse sind „Machtfragen“, Ausdruck des jeweiligen Kräfteverhältnisses, auf das jede/r einzelne Beteiligte durch sein/ihr Handeln (oder Nichthandeln!) einen Einfluss ausübt. Das Fehlen dieser Erfahrung kann nicht ohne Auswirkungen auf ihr Bewusstsein bleiben.
Jahrzehntelang gewöhnten sich die Arbeitenden in ihrer betrieblichen Alltagspraxis an eine Haltung und ein Verhalten, welche die „Verhältnisse“ jenseits der engeren beruflichen und privaten Lebensbereiche als gegebene Umstände erscheinen lassen, also als nicht durch ihr eigenes Handeln beeinflussbar oder gar veränderbar. Diese Haltung und dieses Verhalten prägen als Teil ihres „gesellschaftlichen Seins“ das Bewusstsein der Masse der Lohnabhängigen. Angesichts tiefer Krisen und verstärkter Angriffe der Kapitalbesitzer auf die Arbeitenden fällt dies den Gewerkschaften auf die Füße als eine der Ursachen für den Mangel an Gegenwehr gegen die Krisenstrategien der Herrschenden.
„Kunde“ oder Kämpfer
Viele Gewerkschaftsmitglieder sehen sich durch die „Stellvertreterpolitik“ nicht als Mitglied eines Verbandes zum Zweck der Organisierung ihrer Kämpfe, sondern eher als „Kunde“ eines Dienstleisters, wie bei einer Versicherung. In zugespitzten Krisen aber werden diese Erwartungen enttäuscht – die (gesetzlichen) Möglichkeiten auch der besten, klügsten, engagiertesten, mutigsten und ehrlichsten „Stellvertreter“ sind beschränkt, solange der Rahmen der „Stellvertreterpolitik“ nicht überschritten wird. „Mitbestimmung“ verhindert keine Stilllegungen und „Kündigungsschutz“ schützt nicht vor Kündigungen …
Solange die Arbeitenden nicht lernen, sich selbst zu vertreten, hat diese „Kunden“-Haltung fatale Konsequenzen: Statt aus der Schwäche ihrer „Stellvertreter“ die Konsequenz zu ziehen, sich in Betrieb und Gewerkschaft verstärkt selbst zu organisieren, um in den notwendigen Kämpfen stärker zu werden, erscheint es ihnen allzu oft näherliegend, aus Enttäuschung „ihren Vertrag zu kündigen“ und auszutreten.
Die (nicht immer unberechtigte) Kritik von Beschäftigten an Betriebsräten und Gewerkschaften ist darum zu hinterfragen: Kritisieren sie als potenzielle Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die allein nicht kämpfen können und darum eine Organisation wollen, die ihren Kampf organisiert, oder kritisieren sie als enttäuschte „Kunden“? Auch bei Kritik der politischen Linken an den Gewerkschaften sollte immer mit bedacht werden, welche dieser beiden Haltungen sie stärkt.