Matthew Shoychets Dokumentarfilm „Der Buchhalter von Auschwitz“

Dem Vergessen entrissen

Ausgelassen feiernde Wachmannschaften in einem KZ, unterschnitten mit Fotos von Massengräbern – schockierend sind gleich die ersten Minuten von Matthew Shoychets Dokumentarfilm „The Accountant of Auschwitz“. Der kanadische Filmemacher feierte mit dieser Arbeit einen großen Festivalerfolg in Toronto beim dortigen Filmfestival 2018. In die deutschen Kinos ist der Film bisher nicht gekommen, wenigstens beim Streaming-Anbieter Netflix kann und sollte man ihn sehen. Denn Shoychets Film ist weit mehr als ein Zeitdokument über einen der letzten großen Strafprozesse gegen einen KZ-Täter, er ist eine grimmig-traurige Bilanz der juristischen Bewältigung der Nazizeit in der BRD bis heute.

„In Auschwitz hat es keine Vergasungen gegeben“, sagt eine resolute Dame vor dem Gerichtssaal in Lüneburg 2015 ganz offen in Shoychets Kamera. Im Saal wird verhandelt über den 93-jährigen Oskar Gröning, der als junger SS-Unterscharführer im KZ Auschwitz die den Opfern weggenommenen Wertgegenstände verwaltete und nun als Mittäter bei der Ermordung von 300.000 ungarischen Juden angeklagt wird. Der so furchtlosen Auschwitz-Leugnerin droht wohl keine Verfolgung ihrer Straftat, so was geht in diesem Land noch als „Meinungsäußerung“ durch. Ihr Mitbürger Oskar Gröning hatte nach 1945 unbehelligt bei Lüneburg gelebt – bis er 2005 durch unbedachte Interviews mit der BBC und dem „Spiegel“ sich selbst auf die Anklagebank brachte.

Ob dies aus Reue, Eitelkeit oder Versehen geschah, ist heute nicht mehr zu klären; auch Shoychet und sein Autor Ricki Gurwitz lassen offen, warum Gröning als erster Angeklagter in solchen KZ-Prozessen nicht seine Unschuld beteuerte; sein Weg in die Öffentlichkeit begann mit seiner Entrüstung über das Buch „Die Auschwitzlüge“ des Neonazis Thies Christophersen, dessen Lügen er durch eigene Zeugenschaft zu widerlegen hoffte: „Ich war da, ich habe alles gesehen, die Gaskammern, die Verbrennungsöfen, alles!“, sagt er im Interview – vielleicht in der Gewissheit, dass seine KZ-Tätigkeit wie bislang üblich nicht als Mittäterschaft gewertet würde. Dies aber hatte sich durch den schlagzeilenträchtigen „Fall Demjanjuk“ im Mai 2011 geändert: Das Landgericht München befand, in Vernichtungslagern wie Auschwitz sei jeder dort Eingesetzte „Teil der Vernichtungsmaschinerie“ gewesen und daher Mittäter, auch wenn ihm keine konkrete Tötungshandlung nachzuweisen war. Der Film widmet dem Fall Demjanjuk vor Gerichten in den USA, Israel und der BRD einen ausführlichen und informativen Diskurs, der die fragwürdige Behandlung durch die westdeutsche Justiz deutlich offenbart.

Die verwickelten juristischen Probleme und Beweisführungen macht der Film verständlich, indem er ausführlich die Rolle örtlicher Antifaschisten und des Ludwigsburger Ermittlers Thomas Walter würdigt, die gegen mancherlei Widerstände den Prozess ins Rollen brachten. Die im Film auftretenden Zeitzeugen sind in ihren Aussagen vielfach auch von inneren Konflikten geprägt: Rache will zwar keiner von ihnen, aber ein Urteil, das der Verantwortung Grönings angemessen ist. Der umstrittene australische Bioethiker Peter Singer zweifelt sogar, ob ein 93-Jähriger ins Gefängnis gehört für Taten, die er als 23-Jähriger beging. Nach den Nürnberger Prozessen wurde festgehalten, dass „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ nicht verjähren, aber für manche selbsternannte Fachleute gilt sowas nicht. Shoychet lässt auch die Verwirrung nicht aus, die eine dem „Zwillingsforscher“ Mengele entkommene Zeugin in Lüneburg auslöste mit einer freundlichen Umarmung für den Mann, den andere Zeugen „den immer noch gleichen arroganten Nazi“ nannten und der nach eigenem Bekunden einen SS-Mann dafür kritisierte, dass er ein schreiendes Baby gegen eine Wand schmetterte – er selbst „hätte es eher erschossen“.

Doch nicht Grönings Taten in Auschwitz sind das Hauptthema dieses Films, sondern, wie es der prominente US-Strafjurist Alan Dershowitz betont, die „schandhafte“ Behandlung solcher Fälle in der Nachkriegs-BRD. Shoychet bezieht sich immer wieder auf die Nürnberger Prozesse und ihren Chefankläger, den heute 99-jährigen Benjamin Ferencz, und ordnet den Gröning-Fall am sehr verknappt wirkenden Ende auch ein in die Reihe anderer Völkerrechts-Verbrechen weltweit. Sein Verdienst aber besteht vor allem darin, einen fast übersehenen Fall von NS-Verbrechen wieder öffentlich zu machen. Wie Demjanjuk wurde auch Gröning zu vier Jahren Haft verurteilt, er wehrte sich mit allen Mitteln gegen das Urteil, bis das Bundesverfassungsgericht in letzter Instanz ihn im Dezember 2017 definitiv für haftfähig erklärte. Selbst ein Gnadengesuch wurde zu Recht abgelehnt, aber eine Aufforderung, die Haft anzutreten, erhielt er bis zu seinem Tod im März 2018 nie. Wen wundert’s?

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"Dem Vergessen entrissen", UZ vom 22. Januar 2021



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