Zwei gehen auf die Insel, die eine sucht ihren Bruder. Die Insel ist nicht fest, sie bewegt sich in Richtung Terrorstaat. Das – so grob, so kurz – ist Ann Quins Roman „Passagen“. Erschienen ist er erstmals 1969, bereits ein Jahr später hatte ihn der März Verlag, eines der wichtigsten literarischen Häuser der radikalen Linken Westdeutschlands, in deutscher Übersetzung herausgebracht.
Neue gelbe Bücher gibt es seit vergangenem Jahr, als Verlegerin Barbara Kalender nach dem Tod ihres Mitstreiters Jörg Schröder (1938 bis 2020) gemeinsam mit dem ehemaligen Matthes & Seitz-Lektor Richard Stoiber den 1969 erstmals gegründeten Verlag zurück aufs Tableau holten und seitdem wieder Neuerscheinungen publiziert. Aber, wie im Fall von Ann Quin, auch Wiederauflagen aus dem früheren Programm.
Fragt sich natürlich, warum gerade „Passagen“? Das Werk der 1936 in eine Arbeiterfamilie im englischen Brighton hineingeborenen Autorin, die 1973 ins Meer hinausschwamm und nicht mehr zurückkehrte, ist trotz seiner Kürze ein schweres. Die Sprache ist so knapp wie eng gewebt, jedes Wort verlangt nach aufmerksamer Gegenprüfung: „Die Männer rauchten, sprachen von der Flotte, der Armee, Kriegen, dem Krieg und Autos.“ „Krieg“ zweimal, in Plural und Singular – man pendelt hier zwischen dem Allgemeinen (es gab und gibt Kriege) und dem Konkreten (es herrscht gerade Krieg, vielleicht?) und wird dann aber wieder zurückgezogen zum Allgemeinen (reden die Männer von Beispielen und kommen dann auf den „Krieg“ an sich zu sprechen?). Quins „Passagen“ sind Ellipsen. Immer wieder gerät man an einen Punkt, den man längst hinter sich glaubt: Der früh erscheinende Dolmetscher, der den beiden Reisenden helfen soll, „vergrub seine Hände in den Hund, als ich ihm Geld anbot“. Wenig später: „Der Dolmetscher stand am Fenster, sein Gesicht in dem Hund vergraben.“ Eine aus der Spiralbewegung entstehende Steigerung, genauso verstärkt wie konterkariert durch den Wechsel von Akkusativ zu Dativ in der Übersetzung von Elisabeth Fetscher. Eine Seite weiter dann wird klar, dass der Dolmetscher die Fremden nicht voranbringt: „Selten geteilte Fantasien? Den Hund des Dolmetschers mit seinem Halsband zu erdrosseln.“
Die „Passagen“-Welt ist in ihrer Figurenpsychologie freudianisch gefertigt, sprachlich opak – ein geschlossener Raum, gerade so absurd, dass man ihm trotzdem linear folgen kann und hinter der vom Existenzialismus getragenen Resignation, die die wenig aussichtsreiche Suche des vielleicht von der Herrschaft ermordeten Bruders anzeigt, eine Entwicklung sieht: „Sie ordnete Sachen auf dem Balkon. Brieftasche, Zigarettenschachtel, verschiedene Federhalter, Bleistifte, Notizbücher, Tagebuch, Manschettenknöpfe, eine Schlipsnadel. Eine Liste von Namen, solche, von denen es hieß, sie hätten einmal etwas mit den Kommunisten zu tun gehabt. Sie las die Liste mehrmals durch. Vielleicht hatte er seinen Namen geändert. Sie wusste es nicht.“ Es gibt Rückschritt, also muss es auch Fortschritt geben, Geschichte. Dass die unter der gesellschaftlichen Oberfläche, ob nun spätexistenzialistisch oder postmodern, lauert, mag eine der „Passagen“ sein, die die Lektüre anbietet.
In die Reise auf die Insel, die nach und nach faschisiert und auf der die Opposition immer offener verfolgt wird, bricht der Mythos als Ewiganwesendes ein: antike und talmudische Narrative greifen vor allem nach dem männlichen, oft von seinen Trieben gesteuerten Reisenden, während die Mythen gleichzeitig Kommentar der Gegenwartsebene des Romans sind. Noch bevor also Peter Weiss 1971 mit der Arbeit an seinem Jahrhundertwerk „Ästhetik des Widerstands“ beginnt, lag mit Quins „Passagen“ eine Verflechtung von antifaschistischem Kampf und Reflexion des Menschheitserbes in aphoristisch-schmaler Form vor.
Ann Quins Roman „Passagen“ im Jahr 2022 neu auflegen? Warum also nicht?
Ann Quin
Passagen
aus dem Englischen von Elisabeth Fetscher
März Verlag, Berlin 2022, 135 Seiten, 20,– Euro