Den Leserinnen und Lesern dieser Zeitung muss aktuell nicht erklärt werden, dass das Bundesverfassungsgericht hin und wieder gute Entscheidungen trifft. Wir wollen dabei nicht überschwänglich werden: Den peinlich-tumben Rechtsbruch des Bundeswahlausschusses zurückzuweisen war keine besondere Leistung des Gerichtes, sondern bestenfalls eine juristische Pflichtübung. Vor allem aber war es ein politischer Sieg für die kommunistische Bewegung und die internationale Solidarität. Das kalte Parteiverbot ist abgewehrt und das bisher wichtigste Verfahren des Jahres entschieden. Blicken wir heute also auf den Prozess, der das Zeug dazu hat, zur zweitwichtigsten Entscheidung zu führen – zumindest aus kommunalpolitischer Sicht.
Wieder geht es um eine offensichtliche Fehlentwicklung. Und wieder könnte mehr öffentlicher Druck nicht schaden. Doch der Reihe nach: Die Stadt Pirmasens und der Kreis Kaiserslautern haben eine Verfassungsbeschwerde eingereicht. Es geht um die Finanzausstattung der Kommunen und die Frage, ob die geübte Praxis der strukturellen Unterfinanzierung verfassungswidrig ist. Noch steht nicht fest, ob ein Verfahren eröffnet wird. Doch vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass das Bundesverfassungsgericht zahlreiche Stellungnahmen von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden eingefordert hat. Dieses Anhörungsverfahren, so schreibt die Fachzeitschrift „Der Neue Kämmerer“, rückt „die Finanzproblematik vieler Kommunen in den Fokus und hinterfragt deren Situation erstmals auf Bundesebene im Spiegel des Grundgesetzes“.
Noch spannender wird der ganze Vorgang dadurch, dass Pirmasens und Kaiserslautern einschlägige Erfahrungen auf der juristischen Bühne vorweisen können. Erst im Dezember 2020 erreichten die überschuldeten Kommunen einen großen Erfolg vor dem Landesverfassungsgericht in Rheinland-Pfalz. Der Gerichtshof in Koblenz stellte damals die Verfassungswidrigkeit des kommunalen Finanzausgleichs fest. „Der Gesetzgeber“, urteilte das Gericht, „habe eine realitätsnahe Ermittlung der Kosten sowohl der Pflichtaufgaben der Selbstverwaltung als auch der den Kommunen übertragenen staatlichen Aufgaben vorzunehmen.“ Eine „Unterschreitung der aufgabenadäquaten kommunalen Finanzausstattung“ komme nur in „außergewöhnlichen Notsituationen in Betracht“. Darüber hinaus müsse „die Wahrnehmung (jedenfalls eines Mindestbestandes) selbstgewählter Aufgaben“ gewährleistet werden. Besonders rügte das Gericht, dass die Gemeindefinanzierung nur die „Einnahmeentwicklung des Landes“ fortschreibe. Dabei sollten doch die kommunalen Bedarfe und der Abbau von (Alt-)Schulden im Mittelpunkt stehen.
Diese Praxis existiert bundesweit. Kommunen bekommen Aufgaben übertragen, während ihnen die finanziellen Mittel zur Umsetzung verweigert werden. Im Ergebnis steigen die Schulden und die Infrastruktur zerfällt. Zugleich müssen Sozial-, Jugend- und Kultureinrichtungen geschlossen werden. Unter diesen Bedingungen werden die Kommunalwahlen zur Farce – denn wer das Elend verwaltet, ist nicht länger von Belang. Ohne Handlungsfreiheit gibt es keine kommunale Selbstverwaltung. Aus dem Urteil in Rheinland-Pfalz geht hervor, dass die vermeintlichen „Sachzwänge“ in Wirklichkeit politisch gewollt sind. Es wird deutlich, dass keine „Notsituation“ besteht, die es (aus bürgerlicher Sicht) rechtfertigen würde, die Kommunen am ausgestreckten Arm verhungern zu lassen. Das Bundesverfassungsgericht könnte sich dem anschließen und den bundesweiten Blick auf die Gemeindefinanzierung vom Kopf auf die Füße stellen. Dass allein daraus eine neue Politik erwachsen würde, muss man nicht glauben. Doch die gerichtliche Feststellung des verfassungswidrigen Normalzustandes könnte neue Optionen im Kampf gegen den reaktionären Staatsumbau und für demokratische Reformen eröffnen.