Blick auf das neunte Rezessionsjahr

Deindustrialisierung

Kolumne

In der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte sind ganze Kalenderjahre, in denen die Wirtschaftsleistung schrumpft, relativ selten. Gemessen wird der Zuwachs des so genannten Bruttoinlandsprodukts (BIP). Dabei wird der Wert des Exports dazugerechnet, der Wert der Importe aber abgezogen. Wie der Name Leistung schon andeutet, geht es also nicht darum zu ermitteln, wie es den Bewohnern des Landes wirtschaftlich geht, sondern wie viel produziert wurde. 2023 war erst das neunte Rezessionsjahr seit 1951, als die als BIP gemessene Wirtschaftsleistung im Vergleich zum Vorjahr und um den Preisanstieg bereinigt geschrumpft ist.

Und zwar, wie die Statistikbehörde mitteilt, nur um 0,3 Prozent. Das ist ein relativ geringer Rückgang. Viele Volkswirte nennen das eher Stagnation. Rezessionsjahre schließen meist eine Abschwungphase ab. So war das jedenfalls in den frühen Rezessionsjahren 1967 bis 1993, denen ein relativ munterer Aufschwung der Investitionen und der Exporte folgte. Die Erholungsphasen nach Rezessionsjahren wurden allerdings im Lauf der Zeit schwächer. Nach der bei weitem tiefsten Rezession, der von 2009 (minus 5,7 Prozent), die der weltweiten großen Finanzkrise (2007/2008) folgte, war der Aufschwung zunächst zwar auch beachtlich, mündete danach aber in einer stagnationsähnlichen Phase schwachen Wachstums. Sie war gekennzeichnet durch einen Niedergang des EU-Binnenmarktes. Im Vergleich zu den von der Eurokrise betroffenen südeuropäischen Ländern ging es der deutschen Wirtschaft prächtig. Aber insgesamt blieb der westliche Teil Europas hinter dem anderer Regionen auf dem Globus zurück.

Auffällig am Rezessionsjahr 2023 ist, dass sich die Lage umgekehrt hat. Zwar bleibt aktuell Westeuropa beim Wachstum auch wieder hinter dem anderer Weltregionen zurück, aber auch verglichen mit anderen europäischen Ländern war Deutschland 2023 ganz hinten. Britannien und Italien wuchsen um 0,6 und 0,7 Prozent, Frankreich um 1,0 Prozent, Spanien sogar um 2,4 Prozent. Auch Russlands Wirtschaft, die dem Wunsch der deutschen Außenministerin nach durch die Sanktionen ruiniert werden sollte, dürfte auch nach Schätzung der EU-Kommission 2023 um über 2 Prozent gewachsen sein. Man kann also konstatieren, dass die rechte Presse Recht hat, wenn sie scheinheilig jammert, Deutschland sei „Wachstumsschlusslicht“ und der „kranke Mann“ Europas.

Die wichtigste Ursache für das schwache Wachstum im vorigen Jahr ist eindeutig die Inflation. Die Preise sind den Löhnen und sonstigen Einkommen der Bevölkerung weit enteilt. Damit ist der „private Konsum“, die größte Komponente der BIP-Rechnung, im vergangenen Jahr real um 0,8 Prozent geringer geworden. Obwohl die Inflation schon rasant gestiegen war, hatte der private Konsum 2022 noch stark zugelegt, weil die Corona-Auflagen entfallen waren. Das Niveau des Konsums der Vor-Corona-Zeit ist jetzt wieder unterschritten. Die Entwicklung des Konsums ist noch schwächer als die des BIP insgesamt. Verglichen mit dem Vor-Corona-Jahr 2019 hat die deutsche Wirtschaftsleistung 2023 um 0,7 Prozent zugelegt. Da wirkt das Wachstum des gesamten Eurogebiets um 3,5 Prozent in diesen vier Jahren nachgerade stattlich.

Wirklich beeindruckend im negativen Sinn ist der Einbruch der Industrieproduktion und die Schwäche der Investitionen. Beides ist ohne Frage vor allem auf die dauerhaft gestiegenen Energiepreise zurückzuführen. Die betroffenen Unternehmen jammern gern über die kleinen Preisaufschläge wie die CO2-Abgabe. Der entscheidende Schritt aus dem Frühjahr 2022, auf die billige und zuverlässige Gasversorgung aus Russland zu verzichten und Gas aus Katar und den USA zu beziehen, darf offensichtlich nicht in Frage gestellt werden. Die Deindustrialisierung Deutschlands schreitet voran.

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"Deindustrialisierung", UZ vom 26. Januar 2024



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