Wirklich wirksam gegen die Zerstörung von Umwelt und Gesellschaft?

Degrowth und „Green New Deal“

Walter Reber

Mikroplastik, Flächenverbrauch, Artensterben – die Auswirkungen der bestimmenden Produktions- und Besitzverhältnisse zeigen sich auf vielen Gebieten. Die Klimaveränderungen durch den CO2-Ausstoß sind nur der sichtbarste Indikator des heutigen, von den Folgen menschlicher Aktivitäten gekennzeichneten geologischen Zeitalters des „Anthropozän“.

Europa sah in den letzten Jahren Hitzewellen, Waldbrände, Gletscherschmelzen und schneearme Winter. Ähnliches in Asien: Der Bericht „Zustand des Klimas in Asien 2023“ der Meteorologischen Organisation der UN hebt dabei hervor, dass Überschwemmungen und Stürme Hauptursache für die zahlreichen Opfer und erheblichen wirtschaftlichen Verluste in Asien waren.

Das schwere Hochwasser des Flusses Ural mit Überschwemmungen und Evakuierungen betraf Europa und Asien gleichermaßen. Extreme Regenfälle und Überschwemmungen in der chinesischen Metropolregion des Perlflussdeltas zeigen das gleiche Bild.

Ganz offensichtlich ist die Begrenzung der Erderwärmung, wie sie das Pariser Klimaabkommen vorsah, kaum mehr zu erreichen – unter 2 Grad Celsius sollte die Erwärmung bleiben, möglichst unter 1,5 Grad. Im Durchschnitt der letzten Jahre stieg die Temperatur weltweit um 1,3 Grad über die vorindustrielle Durchschnittstemperatur.

Deal oder Degrowth

Dabei mangelt es nicht an Konzepten gegen die Zerstörung der Umwelt und der Gesellschaft. Sie gehen zum Teil mit einer lautstarken Kapitalismuskritik einher. Ein „Green New Deal“ soll umweltverträglichen Wohlstand schaffen, „Harmonie zwischen Mensch und Natur“ soll bescheidenen Wohlstand und sogar „Schönheit“ für die chinesische Gesellschaft bringen. Und auf der anderen Seite: Degrowth, das Schrumpfen der herkömmlichen Wirtschaft statt ausufernder Produktion und Kapitalakkumulation. Oder, als Ultima Ratio des Kapitalismus: Elon Musk und andere sehen die Zukunft gar darin, eine zerstörte und ausgebeutete Erde zurückzulassen und andere Planeten zu kolonisieren.

Mit dem Ende der So­wjet­union und der anderen sozialistischen Länder gab es einen massiven Anstieg der CO2-Emissionen. Ohne konkurrierendes Gesellschaftsmodell konnte der Kapitalismus alle Zurückhaltung aufgeben.

Auch Kohei Saito, ein japanischer Wissenschaftler und bekannter Kritiker, der von sich behauptet, einen „neuen Marx“ entdeckt zu haben, spricht von der neoliberalen Expansion. „Der Neoliberalismus förderte Privatisierungen, Deregulierung und Austeritätsmaßnahmen, expandierte Finanzmärkte und den Freihandel und ebnete den Weg für den Anfang der Globalisierung“, heißt es in seinem Buch „Systemsturz: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus“.

Saito und der US-amerikanische Publizist Noam Chomsky kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Chomsky tritt für einen „Green New Deal“ ein – einen Umbau der Wirtschaft, um ein nachhaltigeres Wachstum zu erreichen. Saito dagegen argumentiert radikaler: Es brauche einen Wandel – nicht immer mehr Wachstum, sondern im Gegenteil weniger. Saito spricht sich zwar für massive Investitionen in grüne Technologien aus, fordert aber gleichzeitig eine Einschränkung des Überflusses, eine verstärkte Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel, eine Reduzierung des Fleischkonsums und eine stärkere Besteuerung von Luxusgütern.

Kann die Produktion der Autoindustrie wirklich ersetzt werden durch die Produktion von Bahnwaggons? Was geschieht mit der Produktion der Chemieindustrie, die etwa 35 Prozent des Primärenergiebedarfs Deutschlands verbraucht? Und schließlich: Ohne einen grundlegenden Strukturwandel warten die Beratungsfirmen und Lobbyisten schon auf den „Green New Deal“, wie bei den Konferenzen der UN zum Klimawandel sichtbar wird.

Chinas Modell

Auch das chinesische Modell der „Harmonie“ ist als „Green New Deal“ zu verstehen. Wirtschaftswachstum soll den Wohlstand fördern, die Entwicklung „grüner“ Technologien soll die Harmonie zwischen Mensch und Natur ermöglichen. Der chinesische Staat hat gegenüber ähnlichen Modellen in Europa deutliche Vorteile. Es gibt ein klares Bild des Ziels und der Mittel und Wege, dieses Ziel zu erreichen. China verfügt über die nötigen administrativen Mittel. Und schließlich ist vor allem die chinesische Energiewirtschaft mit dem hohen Anteil von Kohlekraftwerken auf einem Stand, wo selbst geringe Investitionen noch einen hohen, unmittelbar spürbaren Ertrag bringen. Darüber hinaus ist in den letzten Jahren China zu einem Vorreiter in Sachen erneuerbarer Energien geworden.

2022 hat China die Kapazität seiner Solaranlagen so weit ausgebaut wie der Rest der Welt zusammen. Für die Nutzung der Windenergie gilt Ähnliches und ebenso für Energiespeicher. Die Energieproduktion im Westen des Landes, der Transport über Höchstspannungsleitungen in die Verbrauchszentren im Osten, die Elektrifizierung des Individualverkehrs, der massive Ausbau des Bahnnetzes, die Wiederaufforstung und die Regenerierung von Steppengebieten sind beeindruckende Entwicklungen, die das Ziel, in 30 Jahren Klimaneutralität zu erreichen, möglich erscheinen lassen.

Aber auch chinesische E-Autos und die chinesische Modernisierung verschlingen Ressourcen, die letzten Endes selbst bei einem hohen Maß von Recycling endlich sind. Und wie viel Wachstum verträgt nicht nur der Planet – sondern auch die Menschheit?

Schrumpfkur

Hier setzt die Degrowth-Bewegung an. Diese Bewegung beinhaltet vielfältige und teils widersprüchliche Strömungen und Positionen. Es sind Wissenschaftler, Aktivisten und Publizisten wie Saito und Ulrike Herrmann, die das vorherrschende Entwicklungsmodell des Wirtschaftswachstums kritisieren und nicht nur ein anderes Wachstum, sondern ein Schrumpfen der Wirtschaft fordern – zumindest in den wirtschaftlich entwickelten Ländern.

Schon vor zehn Jahren beschrieb die „Wirtschaftswoche“ einige zentrale Forderungen der Degrowth-Aktivisten. Es waren Forderungen, wie sie durchaus auch von Vertretern eines „Green New Deal“ erhoben werden: Flugreisen sollen stärker besteuert, die Privatisierung von öffentlichen Gütern gestoppt und die Flächenversiegelung beendet werden.

Saito beschreibt, wohin die immer wieder neuen Investitionen des Kapitals und die Ausbeutung von Arbeitskräften und Ressourcen auf der ganzen Welt zur Gewinnsteigerung und Expansion führen: Das Resultat besteht in der Zerstörung des natürlichen Lebensraums, der Vernichtung von Arten und der Verwüstung des Planeten. Degrowth sei der Versuch, den außer Rand und Band geratenen Kapitalismus auszubremsen.

Ähnlich äußert sich Herrmann, die die Zerstörungen schildert, die der Kapitalismus anrichtet, und – nicht nur rhetorisch – fragt: Haben wir nicht vor 40 Jahren mit der Hälfte des BIP auch „gut gelebt“?

Tatsächlich hat sich aber in diesen 40 Jahren die Weltbevölkerung von vier auf acht Milliarden Menschen verdoppelt. Die Zahl der Menschen, die auch „gut leben“ wollen, ist noch weiter gestiegen und die Technik hat sich in einem Maße verändert, dass eine massive Reduktion der Wirtschaftsleistung ohne eine katastrophale Krise nicht möglich erscheint.

Konsumzauber

Die Degrowth-Bewegung setzt sich vor allem mit einem Aspekt des Kapitalismus auseinander, der für das Funktionieren des Systems von immenser Bedeutung ist – und zugleich zur Zerstörung der Welt beiträgt: dem echten und scheinbaren Wohlstand, der Verzauberung durch den Konsum. Diese Verzauberung – immer neue, immer bessere, schönere, schnellere Produkte erwerben zu wollen und damit selbst immer attraktiver zu werden – betrifft ja nicht nur die Wenigen, die sich diese Produkte leisten können. Sie betrifft auch die viel größere Zahl derer, die sie sich nicht leisten können. In vielen Fällen jagen sie diesem Trugbild des Schönen hinterher, ohne es je zu erreichen.

Henry David Thoreau wollte in einem Selbstversuch Mitte des 19. Jahrhunderts herausfinden, was gegenüber dieser Verzauberung das „eigentliche Leben“ ausmacht. „Ich wollte alles Mark des Lebens aussaugen, so hart und spartanisch leben, dass alles, was nicht Leben war, in die Flucht geschlagen wurde“, schrieb er in seinem Buch „Walden“.

Doch es reicht nicht aus, die Ideologie des Wachstums und des Konsums kritisch zu betrachten, ohne zugleich die Frage von Armut, Mangel und Not zu thematisieren.

Chomsky spricht in diesem Zusammenhang von einem „neoliberalen Angriff“ mit zerstörerischen Folgen. Dieser Angriff des Kapitals äußert sich im Hohen Lied auf Privatisierungen etwa beim städtischen Wohnungsbau, im Gesundheitswesen und sogar bei der Trinkwass-erversorgung. Er führt zur überragenden Bedeutung, die dem „Shareholder-Value“ zugewiesen wird, zu Freihandelsabkommen, bei denen nicht nur Zölle, sondern in vielen Fällen auch Umweltstandards fielen, zur Zunahme der Just-in-time-Produktion, zu mehr Reichtum bei den Reichen. Nun kommt auch noch die ungebremste Kriegführung hinzu, ob in Gaza oder der Ukraine und womöglich im Südchinesischen Meer. Die Ressourcen der Welt werden weithin vernichtet.

Der Kapitalismus hatte seine Chance

„Doch mit der zunehmenden Expansion des kapitalistischen Wirtschaftens nahm auch die Rohstoffvergeudung rapide zu. So wurde beispielsweise die Hälfte aller von der Menschheit verwendeten fossilen Brennstoffe erst nach dem Ende des Kalten Krieges im Jahr 1989 verbraucht“, schreibt Saito. Der Kapitalismus, der seine sozialistische Konkurrenz los war, konnte ungebremst weltweit agieren, Kriege um Ressourcen und Transportwege führen, die Produktion ausweiten und die virtuelle Welt erobern. Macht und Reichtum einer Elite erreichten ein Ausmaß wie kaum je zuvor in der Geschichte. Auch zwischen dem HDI – der HDI ist ein Maß für die Entwicklung eines Landes, das Einkommen, Bildung und Lebenserwartung umfasst – der entwickelten Industrieländer und der Länder des Globalen Südens liegen noch immer Welten. Dennoch ändern sich die globalen Machtverhältnisse: China, Indien und Brasilien gewannen an Einfluss, die G7 verlieren. Die daraus resultierenden Konflikte verheißen indes für die weitere Entwicklung nichts Gutes.

Die alten Industrieländer haben ihr historisches „CO2-Budget“ bereits aufgebraucht. Eine Beschränkung des Besitzes von Zweit- und Drittwohnungen, ein Verbot von Privatflugzeugen und Großjachten und eine Reduzierung des zulässigen Höchstgewichts von Pkws würden nicht nur als unverzichtbare Sofortmaßnahmen gegen den CO2-Ausstoß wirken, sondern auch der neoliberalen Ideologie entgegenwirken. Unverzichtbar wäre auch ein sofortiges Ende der Kriegstreiberei und Hochrüstungspolitik der NATO, die immensen Schaden verursachen und Ressourcen verschwenden.

Die globalisierte Welt ist über die Produktion, die Lieferketten und die Rohstoffe so sehr vernetzt, dass selbst einzelne Änderungen bedeutende Folgen haben können. Bei der Beurteilung und Steuerung dieser Auswirkungen kann nicht der Profit der Maßstab sein – Profite als Steuerungsmittel haben ihre Untauglichkeit schon lange unter Beweis gestellt. Der Kapitalismus hatte seine Chance – und hat sie vertan. Eine gesellschaftliche Bestandsaufnahme, die Definition von Zielen, Mitteln und Wegen, mithin Planung: Das ist die Voraussetzung für eine positive Änderung und Entwicklung.

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"Degrowth und „Green New Deal“", UZ vom 14. Juni 2024



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