Paris, Ende Mai 1871: Die Kommune ist blutig niedergeschlagen. Unter denen, die vor der Verfolgung, den Hinrichtungen und Deportationen fliehen können, ist ein gewisser Eugène Pottier, Jahrgang 1816, also nicht mehr gerade jung, zudem schon länger gesundheitlich angeschlagen. Trotzdem hat er in den stürmischen Wochen der Kommune noch einmal alles gegeben – als Aktivist verschiedener Hilfskomitees, als gewählter Deputierter eines Stadtbezirks und während der Barrikadenkämpfe der letzten Tage. Jetzt ist Pottier, Sohn eines armen Pariser Kistenmachers, selbst berufstätig als Musterzeichner in einem Atelier, in der Stadt untergetaucht. Einige Wochen später kann er sich nach Belgien durchschlagen. Auf dieser Flucht tut er etwas, was er schon in jungen Jahren und besonders seit 1848 immer wieder gern getan hat: Er schreibt ein kämpferisches Gedicht. Dieses nun bekommt den Titel „L’Internationale“ und beginnt mit den Zeilen „Debout! Les damnés de la terre!/Debout! Les forçats de la faim!“ In der uns heute vertrauten deutschen Version heißt das: „Wacht auf, Verdammte dieser Erde/die stets man noch zum Hungern zwingt.“
Auch in Belgien ist Pottier nicht sicher. Er flüchtet weiter nach England, hält sich und seine Familie, die nachgekommen ist, im kleinen Hafenort Gravesend zwei Jahre lang mühsam über Wasser. Dann geht die Exilreise weiter in die USA. Pottier gibt schlecht bezahlten Unterricht im Musterzeichnen und engagiert sich in der gerade erstarkenden amerikanischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. 1880 dann die Heimkehr nach Frankreich. „Ich bin damals mit der Amnestie zurückgekehrt, arm und alt“, notiert er später rückblickend. „Ich versuchte, mich wieder als Zeichner niederzulassen, aber die Bedingungen meines Gewerbes hatten sich von Grund auf verändert; es wäre – wie überall – Kapital nötig gewesen.“
Eugène Pottier schreibt nun schon seit Jahrzehnten mit nicht nachlassender Hingabe seine Zeit- und Streitgedichte und ist noch immer ein Unbekannter. Das ändert sich erst in seinen letzten Jahren. Die Zeitung des neugegründeten Parti Ouvrier, „Le Socialiste“, druckt Texte von ihm ab, ein Lied von Pottier – der nun auch noch mit einer Lähmung kämpft – gewinnt den ersten Preis bei einem Wettbewerb der Pariser Volkssänger. Freunde ermöglichen daraufhin die Herausgabe eines Gedichtbändchens und endlich, 1887, es ist schon sein Todesjahr, erscheint die entscheidende Textsammlung „Chants Révolutionnaires“. „Sein ganzes Leben“, heißt es da im Vorwort, „ist dahingeflossen in der Erwartung eines Ruhms, den wir ihm nun alle schuldig sind.“ Pottier hat diesen Glücksmoment noch erleben dürfen. Nicht mehr erlebt aber hat er, dass aus seinen Versen der „Internationale“ schon bald ein Lied mit eigener zugkräftiger Melodie wurde, das um die Welt gehen sollte.
1888, also nicht lange nach Pottiers Tod, gründet sich in der nordfranzösischen Industriestadt Lille ein Arbeiterchor. Leiter wird der 40-jährige Modelltischler und Drechsler Pierre Degeyter, er arbeitet zu dieser Zeit im Lokomotivbau. Degeyter stammt aus Gent, er ist das zweite von acht Kindern einer belgischen Arbeiterfamilie, die 1855 nach Lille übersiedelt. Schon als Siebenjähriger muss Pierre in einer Baumwollspinnerei arbeiten, neun Stunden täglich. Und doch lernt er bald Lesen und Schreiben, besucht Abendkurse im Zeichnen (auch Pottier hat früh gezeichnet) und Musikkurse am städtischen Konservatorium. Besonders der Gesang begleitet ihn von klein auf, als Kind im Kirchenchor, später im Chor des Stadttheaters, schließlich in Arbeitergesangvereinen. Und so kommt es also nicht von ungefähr, dass Degeyter 1888 die Leitung besagten neuen Chores, er nennt sich „Lyre des Travailleurs“ (Arbeiterlyra), übernimmt. Es mangelt den Genossen gerade an zündenden neuen Liedern und da ergibt es sich, dass jemand Degeyter den im Vorjahr erschienenen Gedichtband mit Pottiers „Chants Révolutionnaires“ in die Hand drückt. Dessen Wahl fällt prompt auf „L’Internationale“ – „sie schien mir großartig für einen Chor geeignet“ –, er macht sich an seinem kleinen Harmonium an die Vertonung. Am Montag nimmt er den Entwurf mit in die Fabrik und singt ihn probeweise den Kollegen vor. Noch ein paar Änderungen, dann steht das Lied. Und wird schon bald, beim Gewerkschaftsfest der Zeitungsverkäufer, am 23. Juli 1888 von der „Arbeiterlyra“ aus der Taufe gehoben.
Zugleich erscheint ein gedrucktes Liedblatt in 6.000 Exemplaren. Als Komponist ist darauf „Degeyter“ angegeben, ohne den Vornamen. Diese Vorsichtsmaßnahme reicht nicht aus: Die Unternehmensleitung weiß schnell Bescheid, der revolutionäre Störenfried wird umgehend entlassen. Für ihn beginnen schwere Zeiten, es ist nicht viel anders als seinerzeit bei Pottier. Degeyter tischlert mal hier, mal da, mal zu Hause, er verkauft die Blätter mit seinem Lied oder auch Bonbons auf den Parteifesten, noch mit 77 Jahren verdingt er sich als Gaslaternenanzünder in Saint-Denis bei Paris, wo er inzwischen längst lebt. Erst drei Jahre zuvor hat ein Gericht endgültig seine Verfasserschaft an der „Internationale“ anerkannt in einem Verfahren, das sich endlos hinzog. Die musikalischen Autorenrechte hatte nämlich pikanterweise zunächst Degeyters Bruder Adolphe geltend gemacht, auf Druck eines Dritten – ein Betrug, der angeblich der Parteikasse in Lille zugutekommen sollte und aufflog, als der arme Adolphe seinem Bruder alles beichtete, ehe er einige Zeit später, die näheren Gründe wissen wir nicht, in den Freitod ging.
Inzwischen beginnt sich die „Internationale“ in ganz Frankreich und darüber hinaus zu verbreiten. Sie erklingt auf sozialistischen Kongressen und Kundgebungen, in Deutschland tauchen verschiedene Nachdichtungen seit 1901 in Zeitschriften auf, 1910 erscheint erstmals die heute noch gebräuchliche Fassung von Emil Luckhardt. Der 1880 in Barmen geborene Bierbrauer, Gewerkschaftssekretär und Arbeitersänger schrieb sie um das Jahr 1905. Seine Übertragung hat drei Strophen, Pottiers Original dagegen sechs, darunter eine mit scharf antimilitaristischer Stoßrichtung. „Friede unter uns, Krieg den Tyrannen!/Wenden wir den Streik auf die Armeen an“, heißt es da unter anderem. Von Emil Luckhardt gibt es übrigens kein Grab. Er starb 1914 in Flandern, wurde bei einem Artillerieangriff verschüttet und nicht mehr gefunden. Der Urtext seiner Übertragung der „Internationale“ aber hat überdauert und befindet sich heute im Engels-Haus in Wuppertal.
1928 bekommt der betagte Pierre Degeyter in seiner kleinen Kommunalwohnung in Saint-Denis Besuch von einem russischen Arzt, der bei der Pariser Botschaft der UdSSR arbeitet. Seit zehn Jahren ist die „Internationale“ offizielle Staatshymne der Sowjetunion, nun möchte man den Arbeiterkomponisten zum VI. Weltkongress der Komintern nach Moskau einladen, der Arzt soll sich ein Bild von Degeyters Gesundheitszustand machen. Dieser ist schon recht schwerhörig und leidet unter Arteriosklerose, dennoch ist der Gast tief beeindruckt von dem fast 80-Jährigen, der ihm stolz seine Möbelmodelle zeigt und auch ein paar Lieder vorsingt. Die Reise im Sommer 1928 findet statt. Degeyter steht mit auf der Ehrentribüne, als tausende Teilnehmer der Allunions-Spartakiade mit seinem Lied auf den Lippen vorbeiziehen. Er hört das Stück auch gespielt von einem Riesenorchester. „Die Musiker“, berichtet er in einem Brief nach Frankreich, „haben mich gepackt und in die Luft geworfen, und ich wusste nicht mehr, wo ich war.“
Vier Jahre nach diesem Höhenflug ist Pierre Degeyter in Saint-Denis gestorben. Sein „letztes Gefecht“ war vollbracht.