Bis in unsere Provinzpresse hinein reichte das Beben, das der Erfolg der „Kommunistischen Partei Österreich plus“ bei den Landtagswahlen im Bundesland Salzburg am 23. April 2023 auslöste. Mit 11,7 Prozent der Wählerstimmen zogen die Kommunistinnen und Kommunisten in den dortigen Landtag ein. Reichlich konsterniert stellte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)“ zwei Tage später fest: „Damit ist Salzburg bereits das zweite tiefrote Einsprengsel in Österreich, neben der Steiermark mit ihrer Hauptstadt Graz unter KPÖ-Bürgermeisterin Elke Kahr.“
Ähnlich wie ihre Genossinnen und Genossen setzten auch die Salzburger auf die Interessenvertretung von Mietern. Weder in Österreich noch in Deutschland ist den regierenden Parteien vorzuwerfen, dass sie nicht versuchen würden, das Thema „Wohnen“ politisch zu besetzen. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP aus dem Jahr 2021 sah vor, jedes Jahr 400.000 neue Wohnungen zu bauen, um durch Schaffung von Angebot die davongaloppierenden Mietpreise zu dämpfen. Das ist inzwischen Asche – wie so vieles aus den ersten Tagen dieser nun vor allem mit Haubitzen befassten Koalition. Die „FAZ“ titelte auf ihrer Wirtschaftsseite am Freitag vor der Salzburger Klatsche: „Von den 400.000 spricht keiner mehr.“ Im Jahr 2022 wurden nur rund 280.000 Wohnungen neu fertiggestellt – Tendenz fallend. Das Blatt rechnete vor, dass im „frei finanzierten Wohnungsbau“ die Kosten „auf Miethöhen von 17,50 bis 20 Euro kalt je Quadratmeter“ hinausliefen. Welche Familie soll sich von den real schrumpfenden Löhnen für sich und ihre beiden Kinder auch nur eine 80-Quadratmeter-Wohnung für 1.600 Euro kalt leisten können?
So werden immer mehr Menschen mit niedrigen Löhnen oder Lohnersatzleistungen aus den besseren Wohnlagen in immer schlechtere abgedrängt. Die Letzten beißen die Hunde.
Vieles deutet darauf hin, dass die Wohnungsfrage neben der Kriegsfrage und der Frage des kontinuierlichen Reallohnverlustes in den kapitalistischen Metropolen mehr und mehr auf die Tagesordnung politischer Auseinandersetzung rücken wird.
In der Geschichte des Kapitalismus war dies zum ersten Mal der Fall in den 70er Jahren des vorletzten Jahrhunderts. Heftige Debatten wurden darüber geführt, wie der drängenden Wohnungsnot proletarischer Massen – vor allem in den großen Städten – beizukommen sei. Damals wie heute gab es starke Stimmen auch innerhalb fortschrittlicher Bewegungen, die es für möglich hielten, die „Wohnungsfrage“ bei Aufrechterhaltung kapitalistischer Strukturen nicht nur zu thematisieren, sondern auch zu lösen – also für alle Menschen ohne Infragestellung kapitalistischer Eigentumsverhältnisse angemessenen und günstigen Wohnraum zu schaffen.
In dieser Gemengelage verfasste Friedrich Engels zwischen Mai 1872 und Januar 1873 eine Artikelserie mit der Überschrift „Zur Wohnungsfrage“, die im „Volksstaat“ in Leipzig erschien und breite Resonanz hervorrief.
„Die sogenannte Wohnungsnot, die heutzutage in der Presse eine so große Rolle spielt, besteht nicht darin, dass die Arbeiterklasse überhaupt in schlechten, überfüllten, ungesunden Wohnungen lebt. Diese Wohnungsnot ist nicht etwas der Gegenwart Eigentümliches; sie ist nicht einmal eins der Leiden, die dem modernen Proletariat, gegenüber allen früheren unterdrückten Klassen, eigentümlich sind; im Gegenteil, sie hat alle unterdrückten Klassen aller Zeiten ziemlich gleichmäßig betroffen. Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel: die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen. – Was man heute unter Wohnungsnot versteht, ist die eigentümliche Verschärfung, die die schlechten Wohnungsverhältnisse der Arbeiter durch den plötzlichen Andrang der Bevölkerung nach den großen Städten erlitten haben; eine kolossale Steigerung der Mietspreise, eine noch verstärkte Zusammendrängung der Bewohner in den einzelnen Häusern, für einige die Unmöglichkeit, überhaupt ein Unterkommen zu finden. Und diese Wohnungsnot macht nur soviel von sich reden, weil sie sich nicht auf die Arbeiterklasse beschränkt, sondern auch das Kleinbürgertum mit betroffen hat.“
Engels’ Schrift über die Wohnungsfrage gehört zu den wichtigsten Standardwerken der Klassiker des Marxismus. Es ist vor allem eine scharfe – und insofern auch erfrischend zu lesende – Polemik gegen „allerhand soziale Quacksalberei“, wie er 1887 im Vorwort zur zweiten Auflage der später mehrmals als Broschüre nachgedruckten Arbeit formulierte. Vor allem wandte er sich scharf gegen die oberflächliche, nur scheinbar linke Gleichsetzung von Mietern mit Lohnarbeitern und Hausbesitzern mit Kapitalisten. Die Gleichsetzung, führte er aus, „ist total falsch“ – weil eben im Mietverhältnis anders als in der Produktion kein Wert erzeugt wird: „Um wieviel auch der Vermieter den Mieter übervorteilen mag, es ist immer nur ein Übertragen bereits vorhandenen, vorher erzeugten Werts, und die Gesamtsumme der von Mieter und Vermieter zusammen besessenen Werte bleibt nach wie vor dieselbe.“
Die Hauptstoßrichtung der Artikelserie zielte gegen diejenigen, die den Pelz waschen wollen, ohne sich nass zu machen: „Es ist das Wesen des bürgerlichen Sozialismus, die Grundlage aller Übel der heutigen Gesellschaft aufrechterhalten und gleichzeitig diese Übel abschaffen zu wollen. Die bürgerlichen Sozialisten wollen (…) ‚die Bourgeoisie ohne das Proletariat‘.“
So richtig es ist, Forderungen zu stellen, so falsch ist es, auf den bürgerlichen Staat zu vertrauen: „Dass der heutige Staat der Wohnungsplage weder abhelfen kann noch will, ist sonnenklar. Der Staat ist nichts als die organisierte Gesamtmacht der besitzenden Klassen, der Grundbesitzer und Kapitalisten gegenüber den ausgebeuteten Klassen, den Bauern und Arbeitern. Was die einzelnen Kapitalisten (…) nicht wollen, das will auch ihr Staat nicht. Wenn also die einzelnen Kapitalisten die Wohnungsnot zwar beklagen, aber kaum zu bewegen sind, ihre erschreckendsten Konsequenzen oberflächlich zu vertuschen, so wird der Gesamtkapitalist, der Staat, auch nicht viel mehr tun. Er wird höchstens dafür sorgen, dass der einmal üblich gewordene Grad oberflächlicher Vertuschung überall gleichmäßig durchgeführt wird.“
Engels beschrieb anhand der damaligen Umgestaltung der französischen Hauptstadt Paris die Grundlage kapitalistischen Wohnungsbaus, die darin bestand, „lange, gerade und breite Straßen mitten durch die enggebauten Arbeiterviertel zu brechen und sie mit großen Luxusgebäuden an beiden Seiten einzufassen“. Er kritisierte diese „allgemein gewordene Praxis des Breschelegens in die Arbeiterbezirke, besonders die zentral gelegenen unserer großen Städte (…) Das Resultat ist überall dasselbe (…): Die skandalösesten Gassen und Gässchen verschwinden unter großer Selbstverherrlichung der Bourgeoisie von wegen dieses ungeheuren Erfolges, aber – sie erstehen anderswo sofort wieder und oft in der unmittelbaren Nachbarschaft.“ Und nach einer detaillierten Schilderung dieser Praxis, die Wohnungsprobleme der Elendesten nicht zu lösen, sondern nur aus dem Blick zu verbannen, kam er zu dem bis heute gültigen Schluss: „Die Brutstätten der Seuchen, die infamsten Höhlen und Löcher, worin die kapitalistische Produktionsweise unsere Arbeiter Nacht für Nacht einsperrt, sie werden nicht beseitigt, sie werden nur – verlegt!“
Wie aber nun, fragte Engels, sei die Wohnungsfrage zu lösen? „In der heutigen Gesellschaft gerade wie eine jede andere gesellschaftliche Frage gelöst wird: durch die allmähliche ökonomische Ausgleichung von Nachfrage und Angebot, eine Lösung, die die Frage selbst immer wieder von neuem erzeugt, also keine Lösung ist. Wie eine soziale Revolution diese Frage lösen würde, hängt nicht nur von den jedesmaligen Umständen ab, sondern auch zusammen mit viel weitergehenden Fragen, unter denen die Aufhebung des Gegensatzes von Stadt und Land eine der wesentlichsten ist. Da wir keine utopistischen Systeme für die Einrichtung der künftigen Gesellschaft zu machen haben, wäre es mehr als müßig, hierauf einzugehen. Soviel aber ist sicher, dass schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung derselben jeder wirklichen ‚Wohnungsnot‘ sofort abzuhelfen. Dies kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer, respektive durch Bequartierung ihrer Häuser mit obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen, und sobald das Proletariat die politische Macht erobert hat, wird eine solche, durch das öffentliche Wohl gebotene Maßregel ebenso leicht ausführbar sein, wie andere Expropriationen und Einquartierungen durch den heutigen Staat.“
Diese „Maßregel“ wurde in der Tat sowohl nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 als auch – ab 1949 – nach der Errichtung des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, der DDR, und der Gründung der VR China ergriffen. Sie wurde angesichts der damals spezifischen „jedesmaligen Umstände“ zügig ergänzt durch umfassende Wohnungsbauprogramme, die einen scharfen Kontrast bildeten zur heutigen Unfähigkeit und Unwilligkeit, selbst das bescheidene Ziel von 400.000 Neubauten im Jahr für Deutschland auch nur annähernd zu erreichen. Im Ergebnis galt beispielsweise in der DDR in den 1970er Jahren die Wohnungsfrage als gelöst – ein Schild mit der Aufschrift „Wohnen darf nicht arm machen!“ musste dort niemand mehr hochhalten.