Der Text des neuen Buches von Irina Liebmann wechselt ständig zwischen Dokumenten und Erträumtem, zwischen Berichten und Erinnertem. Oft ist das Material bis ins Detail erkennbar, dann wird Erzähltes nur in verschwimmenden Konturen zu ahnen. Irina Liebmann ist von Beginn ihres literarischen Schaffens an mit ihren originellen Einfällen aufgefallen, schon bei ihren ersten Hörspielen 1979. Das lag an der Verknüpfung von gemeinsam getragener Verantwortung und individueller Entscheidung bei ihren Themen.
Dazu interessierte sie sich für soziale Querschnitte, wie 1982 in ihrem epischen Erstling „Berliner Mietshaus“, so der Titel ihres erfolgreichen Buches, das mit Leseproben in der damals populären „Wochenpost“ vorbereitet wurde, bei der Irina Liebmann von 1975 bis 1980 arbeitete. Dieser Titel klingt an, auch ihr Roman „In Berlin“ (1994), wenn man sich der Lektüre ihres neuen Buchs widmet. Die Straße befindet sich im alten Berliner Stadtteil Mitte; es ist „die heimliche Hauptstraße der ganzen verkommenen Gegend“.
Der Bezug zu den früheren Büchern, die gemeinsam eine Art Trilogie zum Thema „Zuhause“ in Berlin bilden, stellt sich durch den Ort her; die Verbindung ist umfangreicher. War es damals die Gegenwart, in der die Menschen lebten, der die Aufmerksamkeit galt, so ist es jetzt die Vergangenheit, in der die Menschen starben, speziell die Juden, die in dieser Straße ein Zentrum – „Es war eine ganz und gar jüdische Ecke“ – und einen Friedhof hatten. Daneben befanden sich das katholische St.-Hedwigs-Krankenhaus und die evangelische Sophienkirche; Toleranz im Sinne Lessings fällt ein, aber die wurde durch die Judenvernichtung der Nazis zerstört und statt Toleranz herrschten Verbrechen und Tod. Die Verfasserin hat dort gewohnt, die Straße dann verlassen und ist nun zurückgekehrt. Eine Korrektur der eigenen Haltung und Zweifel an früheren Entscheidungen werden spürbar.
Die Bücher bestehen aus wahren Geschichten, die zusammengehören, sich auch bedingen: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Der Satz führt zu Christa Wolf, Alfred Andersch und zu seinem Urheber William Faulkner und öffnet eine Verantwortlichkeit, in die sich Irina Liebmann hineinstellt und die sie auch anderen bewusst machen möchte, nicht verschreckt durch die eigenen Verdrängungen und die der anderen. Aber die Gefahr der Alltäglichkeit droht die Geschichte der Straße zu überlagern.
Irina Liebmann schreibt immer über Berlin und letztlich über die Gegenwart, in der die Vergangenheit des Antisemitismus verhängnisvoll wieder lebendig wird. Die Treue zum Thema ergibt sich auch aus ihren persönlichen Erfahrungen und eigener Betroffenheit. Die Methode ist ähnlich geblieben: Die Autorin hat zugehört, hat Akzente gesetzt, die zu Antworten führten, hat Gesagtes gelten lassen und nur wenig kommentiert. Es gab – scheinbar – kein Frageschema, sondern erzählt wurde und nachgedacht über das, was die Gesprächspartner sagen wollten oder zu sagen hatten. Hinzu kam schließlich die Zerrissenheit, als staatliche Erscheinung und als persönlicher Zustand. Das führt zu Verwirrungen und einem erlebten Durcheinander, in dem Positionen schwer zu finden sind und immer wieder in Frage gestellt werden. Irina Liebmann hat sich zudem in eine Tradition gestellt, die fast verschüttet ist: Es ist die der Bettina von Arnim, die über Berliner in Mietshäusern von 1840 schrieb. Daneben sind die Schicksale ihres Vaters, des kommunistischen Journalisten Rudolf Herrnstadt, und die ihrer jüdischstämmigen Familie überhaupt, ihrer russischen Mutter, der eigenen Geburt in Moskau, das Panorama, auf das diese Erfahrungen projiziert werden.
Das Buch hat drei Ebenen: Einmal sind es Notizen von 1983, also aus der Zeit, als das „Berliner Mietshaus“ erschienen war, aber die Verfasserin weiter auf die Suche nach dem Berliner Profil war, darauf wird angespielt und hingewiesen. Es ist die Methode des früheren Bandes, die erinnert wird. Das geschieht im Jahr 2015, in dem diese Notizen geprüft werden, ehe sie bis 2019 verarbeitet werden. Beide Ebenen bedingen einander und unterscheiden sich: 1982 galt das Interesse der Chronistin den sozialen Verhältnissen in einem ausgewählten Miethaus, der Geschichte der einzelnen Bewohner und den Familien, aus denen sich ein sozialer Querschnitt der Gesellschaft bildete. 2015 gehörte das Interesse der eigenen Individualität, ihren Neigungen, Ängsten und Wünschen. Statt der Sozialanalyse gilt das Interesse den Gefühlen des Einzelnen. Die dritte Ebene im Jahr 1942 weist auf die Verbrechen von Judenverfolgung und Judenvernichtung hin, die wie eine Klammer die beiden anderen Ebenen umschließen, die sich punktuell ins 17. Jahrhundert, gewichtiger von 1800 bis in die Gegenwart, ausweiten, gestützt auf Dokumentarisches wie Stadtpläne und Adressbücher und anderes.
Dass das Buch „Roman“ genannt wird, verblüfft, aber je mehr man in die Materie eindringt und diese drei Ebenen erkennt, desto mehr nähert man sich der Gattungsbezeichnung an: Es ist der Roman eines Menschen und einer Gruppe, letztlich der Roman einer Straße, die ein lebender Organismus ist. Sie wird zur Gegenspielerin der Erzählerin. Alfred Döblins „Berlin-Alexanderplatz“ fällt ein, der kapitellang in der gleichen Gegend am Rosenthaler Platz spielt, der auch bei Irina Liebmann eine strukturelle Bedeutung bekommt. In sozial ähnlich gefügten Regionen versuchen Menschen anständig zu leben; aber glücklich werden sie kaum. Obwohl die Chronistin fortlaufend die gesamte Geschichte der Straße zu objektivieren versucht, um ihr ein Gesicht zu geben, beherrscht die jüdische Vergangenheit den Roman.
Das Interesse an der Straße beruht auf der Neugier des Menschen – darin liegt immer ein wenig Voyeurismus, auch bei der Schriftstellerin. Sie wollen wissen, wie andere Menschen leben, welche Erfahrungen sie gemacht haben. Es ist ein alter und nur zu menschlicher Zustand, der verloren zu gehen droht. Dabei entsteht in den Gesprächen und Überlegungen keine problemlose Eindeutigkeit, vielmehr wechseln Verwirrung und Neuansatz. Das hat Irina Liebmann gelernt, das neue Buch ist ein Dokument dieses Lernprozesses.
Die Prinzipien ihres Schreibens erinnern an Uwe Johnsons Suche nach Biografien und Orten. Das Buch hat deshalb berechtigt den Uwe-Johnson-Preis 2020 bekommen; er wurde Irina Liebmann am 9. Oktober 2020 verliehen.
Irina Liebmann: Die Große Hamburger Straße Mit 8 Fotografien von Irina Liebmann Frankfurt a. M.: Schöffling & Co. 2020, 240 S., 22 Euro