Steht Geld zur Debatte, geht es den Bürgerlichen auch immer um Moral und Disziplin

Das Wort „Totalverweigerer“ ist ein politisches Phantom

Mesut Bayraktar

Kurz vor Neujahr hatte die Ampelregierung ihren Haushaltskompromiss vorgestellt – eine Kürzungsorgie zulasten der arbeitenden Klasse und Unterdrückten, denn sie sind die vielbeschworenen „Verbraucher“. Der Kompromiss stellt Weichen für eine verschärfte Ausplünderung der arbeitenden Bevölkerung zugunsten der Reichen und ihrer Kriege. Hintergrund ist ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November, wonach die Bundesregierung Gelder zur Corona-Krise nicht ohne Weiteres für den Klimaschutz verwenden durfte, sodass ein Haushaltsloch von fast 30 Milliarden Euro entstand. Es wurde von den bürgerlichen Politikern und den Medien wie ein naturgesetzliches Ereignis behandelt. Doch nicht allein das führte zum Engpass. Erst in der Kombination mit dem beharrlichen Festhalten an der Schuldenbremse und der politischen Entscheidung der Regierung, keine Steuern während der Legislatur zu erhöhen oder einzuführen, etwa um Milliardäre oder Großkonzerne zu besteuern, entstand die Haushaltskrise.

Der vorliegende Haushaltskompromiss hat auch einen disziplinarischen Bestandteil, der die menschenverachtende Fratze der kapitalistischen Klassengesellschaft grell hervortreten lässt: Für Arbeitslose und Geflüchtete werden mehr Sanktionen geplant, um – so das Finanzministerium – rund 750 Millionen Euro einzusparen. Für die Armen bleibt in einem der reichsten Länder der Welt nur noch brutale und rassistische Klassengewalt. Nichts anderes bedeuten Sanktionen, wenn man täglich von existentiellen Fragen des Überlebens umzingelt ist. Als wären sie das Problem – und nicht Villenbesitzer, Finanzspekulanten, Millionenerben, Oligarchenfamilien wie Quandt, Bosch, Albrecht bis Siemens oder Schäffler und IT-Giganten wie Amazon, Google oder Tesla.

Nun hat die Chefin der Bundesagentur für Arbeit, Andrea Nahles (SPD), nachgelegt. Es gebe „durchaus Menschen, die sich einer Mitwirkung wirklich komplett entziehen.“ Deshalb befürwortet sie den Vorschlag des Bundesarbeitsministers, Hubertus Heil (SPD), dass ihre Behörde Armen und Arbeitslosen das Bürgergeld künftig ganz streichen darf – bis zu zwei Monate bei der Ablehnung von „zumutbaren“ Jobs. Damit wollen die Sozialdemokraten den angespannten Haushalt jährlich um 250 Millionen Euro „entlasten“. Sozialdemokratisches Schutzgeld, erpresst von den Schwächsten. Plötzlich sind „Totalverweigerer“ eine offizielle Kategorie.

Worüber reden die eigentlich?

Der Vorschlag des Bundesarbeitsministers gründet auf einer Lüge. Sie lässt sich selbst innerhalb der eigenen Datenerhebung der bürgerlichen Ökonomie entlarven, jenen Daten und Statistiken der Bundesagentur für Arbeit und des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.

Noch nie wechselten so wenige Menschen aus der Beschäftigung in die Grundsicherung wie heute. Im Oktober 2023 waren es 27.694 Menschen, ein Rekordtief; im Oktober 2017 waren es 38.376 Menschen und im Oktober 2013 waren es 53.564. Für den plötzlichen Anstieg im April 2020 und im Juni 2022 ist der erste Corona-Lockdown und die Übernahme der Geflüchteten aus der Ukraine in die Grundsicherung verantwortlich. Umgekehrt pendelt die Abgangsquote, wonach Menschen aus der Grundsicherung in die Beschäftigung gehen, seit zehn Jahren stabil zwischen 5 und 6 Prozent. Mit anderen Worten: Die Leute haben gar keinen Bock auf Bürgergeld und Elendsverwaltung. In wissenschaftlichen Analysen mit mathematischen Operationen nennt man das einen Trend.
Laut den Daten hält also weder das Bürgergeld die Bezieher in der Grundsicherung, noch kündigen Beschäftigte ihren Job wegen des Bürgergelds, wie seit einem Jahr behauptet wird. Ob Heil, Nahles, Lindner, Merz oder Chrupalla – sie gehen nicht von der Realität und den ihnen vorliegenden Daten aus, sondern von den Interessen ihrer Klasse: dem Kapital.

Worüber reden wir eigentlich, wenn Politiker von CDU, CSU, FDP und AfD sagen, das Bürgergeld würde das Lohnarbeiten wertlos machen, vor allem wenn es nun um 12 Prozent steigt? Wir reden von einem Regelsatz von 563 Euro, der ursprünglich im Januar 2023 mit einem Regelsatz von 502 Euro eingeführt wurde. Den Abstand zu Jobs mit Mindestlohn, der 2022 um 22 Prozent gestiegen ist, kann man schnell errechnen, auch wenn das Ergebnis lächerlich ist angesichts der Rekordausschüttungen von 54,6 Milliarden Euro an Aktionäre der 40 Konzerne im Deutschen Aktienindex für 2023. Rechnet man die Verteuerung der letzten Monate und der noch vor uns liegenden etwa durch den gestiegenen CO2-Preis oder den Wegfall der Vergünstigungen für Bauern sowie das Auslaufen der Strom- und Gaspreisbremsen hinzu, die Inflation, ist das Bürgergeld ein skrupelloser Witz. Zu behaupten, das Bürgergeld würde zum Leben reichen, ist bürgerlicher Klassenhass. Es reicht nicht mal zum Überleben.

Die vielbeschworene Erforderlichkeit des Sanktionierens lässt sich ebenfalls mit Blick auf die vergangenen Monate und Jahre prüfen. Von den 3,9 Millionen Bürgergeldempfängern werden bislang bei 23.400 Personen Sanktionen wegen mangelhafter Mitwirkung verhängt. Das sind 0,6 Prozent. 2019, als noch die alte Sanktionspraxis galt, wurden drei Prozent der Bezieher mindestens einmal Leistungen gekürzt. Zeitweise komplett gestrichen wurde das damalige Arbeitslosengeld II bei rund 5.800 Personen. Das sind weniger als 0,1 Prozent der damaligen Bezieher.

Von wem reden sie eigentlich?

Das Wort „Totalverweigerer“, das im neuen Jahr Schlagzeilen macht, ist ein politisches Phantom. Die Frage ist nicht, wer mit „Totalverweigerer“ gemeint ist. Die Frage ist, warum die bürgerliche Klasse über Phantome im Zusammenhang mit Arbeit, Verweigerung und Strafe spricht.

Karl Marx beschreibt die Armen und Arbeitslosen in der bürgerlichen Gesellschaft als „industrielle Reserve“ der arbeitenden Klasse. Diese Reserve bildet innerhalb kapitalistischer Produktionsweise die Grundlage für die Elastizität des Kapitals, rasch innerhalb der Wirtschaftszweige zu springen oder neue Geschäfte aufzunehmen, je nach dem, wo Profite gewittert werden. Arbeitskräfte, aus denen diese Profite erbeutet werden, können im Zweifel ausgetauscht werden. Die Löhne werden gedrückt. Wer zu viel verlangt, wird entlassen oder gar nicht erst beschäftigt. Dieser ökonomische Tatbestand zielt zudem auf die Seele der arbeitenden Körper, ihren Platz als Ausgebeutete nicht infrage zu stellen. Daher fügt Marx bei der Analyse kapitalistischer Armut hinzu: „Es liegt in der Natur des Kapitals, einen Teil der Arbeiterbevölkerung zu überarbeiten und einen andern zu pauperisieren (zu verarmen; der Autor).“ Erst recht in Deutschland, der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt mit dem größten Niedriglohnsektor in Europa.

Arme und Arbeitslose müssen in der kapitalistischen Klassengesellschaft den symbolischen Tod sterben. Das ist die Machtdemonstration der Bürgerlichen an den künstlich überzählig Gemachten, die für die Arbeitenden ein lebendiges Exempel sein sollen: Gehorchst du nicht, passiert dir dasselbe – stirb.

Wenn die Bürgerlichen von „Totalverweigerern“ sprechen, dann adressieren sie nicht die 900.000 sogenannten Langzeitarbeitslosen, nicht die bislang 23.400 Personen mit mangelhafter Mitwirkung, nicht die 5.800 Personen, denen seinerzeit das Arbeitslosengeld II komplett gestrichen wurde. Sie meinen mit „Totalverweigerern“ bis zu 50 Millionen erwerbstätige Menschen in Deutschland, die für sie arbeiten, die von ihnen ausgebeutet werden, die gesellschaftlich den Reichtum erzeugen. Sie sagen „Totalverweigerer“ und meinen die deutsche Arbeiterklasse. Sie sagen „Arbeit muss sich lohnen“ und meinen ihre Herrschermoral. Sie reden von „Faulen“ und lenken von ihren Kriegen und deren Kosten ab. Sie reden von uns allen.

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