Die Ereignisse in Zentralasien überschlagen sich. Die Taliban-Führer sitzen im Präsidentenpalast in Kabul am Schreibtisch des ehemaligen, von den USA gestützten Regierungschefs Ashraf Ghani. Das Personal der US-Botschaft und anderer „westlicher“ Botschaften ist hastig durch Hubschrauber zum Kabuler Flughafen verfrachtet worden. Der Flughafen wird nun durch US-Militär kontrolliert, damit US-Personal bevorzugt ausgeflogen werden kann. Das US-Militär in Afghanistan ist auf 6.000 Soldaten aufgestockt worden.
Seit dem von US-Präsident Joseph Biden verkündeten Abzug der NATO- und US-Kampftruppen gestaltet sich der Exodus des „westlichen“ Besatzungs- und Botschaftspersonals immer mehr zu einer wilden Flucht. Das Ghani-Regime ist kollabiert. Ashraf Ghani hat das Land verlassen und per Twitter seinen Rücktritt erklärt. Die in 20 Jahren von den USA aufgebaute und umfangreich ausgerüstete 350.000 Mann starke afghanische Armee ist binnen Tagen zusammengefallen. Die Taliban haben de facto die Macht übernommen. Ihre Führung erklärte, dass sie die Sicherheit ausländischer Bürger garantiere, dass sie keine Konfrontation mit den ausländischen Mächten suche, sie aber vor einer weiteren Invasion in das Land warne. Wie in den großen Provinzhauptstädten gelang den Taliban auch in Kabul eine erstaunliche, nahezu friedliche Übernahme der Macht. Man wolle, so ein Sprecher, eine militärische Erstürmung der Hauptstadt und die damit verbundenen Verletzten und Toten sowie die Verwüstung der City vermeiden. Der Sprecher erklärte ebenso, dass die Frauenrechte respektiert werden würden und dass das Leben der Bürger und ihr Eigentum sicher seien. In diesem Kontext wurde auch eine Amnestie für die Mitarbeiter der bisherigen Regierung verkündet. Die Frage ist, inwieweit diese Zusagen tatsächlich eingehalten werden. Aber die noch wichtigere Frage lautet, wie werden es die Taliban mit den militant-fundamentalistischen Terrorgruppen wie Al-Kaida oder IS halten?
In den „westlichen“ Hauptstädten herrscht blankes Entsetzen. Die US-Neokonservativen (Neocons) und ihre strategischen Planungen für eine postsozialistische, US-dominierte Welt haben ihr Waterloo erlebt. Der schnelle, problemlose Vormarsch der Taliban, die binnen weniger Tage ohne größere Kämpfe das gesamte Land unter ihre Kontrolle bringen konnten, kommt einer katastrophalen Niederlage gleich. Washington und seine Vasallen hatten erwartet, dass ihre Kabuler Marionetten mithilfe des vom Pentagon üppig ausgestatteten Militärs zumindest einige Jahre, idealerweise einige Jahrzehnte aus eigener Kraft durchhalten würden. Bis man mit dem chinesischen Problem fertig geworden sei. Joseph Biden hatte es noch Tage zuvor als „höchst unwahrscheinlich“ bezeichnet, dass die Taliban „das Land überrennen“ könnten.
Bilder vom Fall Saigons kursieren. Wie seinerzeit die chaotische Flucht aus Vietnam, so macht auch das chaotische Ende des Ghani-Regimes das epische Scheitern des imperialen Kriegs- und Nation-Buildings-Konzeptes deutlich. Das „Greater Middle East“-Projekt insgesamt, der Versuch, die Großregion des Nahen/Mittleren Ostens militärisch zu erobern, zu sichern, neu aufzuteilen, gewissermaßen zu „balkanisieren“ und so für die ungehinderte „westliche“ Beherrschung und Ausbeutung handhabbar zu gestalten, ist krachend gegen die Wand gefahren. Nur die weitgehend privatisierte US-Militärmaschine, ihre Legionen von privaten Auftragnehmern („Contractors“), Rüstungsfirmen, Spionagefirmen, Söldnerunternehmen, profitierte in galaktischem Ausmaß. Hunderttausende Afghanen mussten sterben. Eine Billionensumme wurde in die Zerstörung und den Massenmord versenkt. Die hochgerühmten „westlichen Werte“, die „unverzichtbare, einzigartige Nation“ haben sich in der muslimischen Welt, und nicht nur dort, derartig desavouiert, dass nun sogar die Taliban, selbst von der afghanischen Armee, als positive Alternative akzeptiert worden sind. Nach zwanzig Jahren US-Krieg, nach über 40 Jahren „westlicher“ Einmischung sind zwar die Errungenschaften der Saur-Revolution zerstört, aber das Land steht am Abgrund, einige Warlords und „Contractors“ sind zwar um Milliarden reicher geworden, aber die Taliban sind zurück. Unangefochten. Klarer kann man kaum scheitern.
Der Abzug der US-Truppen, der NATO, des „Westens“ eröffnet neue Chancen der regionalen, aber auch eurasischen Zusammenarbeit. Auch ein Taliban-Afghanistan ist auf potente Partner angewiesen. Talibanvertreter kamen mit russischen und chinesischen Funktionsträgern zusammen. Pakistan, Iran, Indien und auch die zentralasiatischen Staaten sind an einer Stabilisierung der Situation und einer Entwicklung der Zusammenarbeit massiv interessiert. Das Binnenland Afghanistan ist ein wichtiges Transitland, sowohl in der Ost-West-Richtung eines Korridors der Belt-and-Road-Initiative, aber auch in Nord-Süd-Richtung, der Verbindung des Indischen Ozeans und des Persischen Golfs mit Zentralasien und Russland. Außerdem verfügt das Land über wichtige Bodenschätze wie Erdgas und Erdöl, Kupfer, Kohle, Eisenerz, Edelsteine, Lithium, Marmor, Gold, Seltene Erden, Uran und ähnliches. Es kommt nun darauf an, eine Perspektive der Kooperation, des Handels und der industriellen Entwicklung zu eröffnen.
Ihren Willen, eine vom US-Imperium unabhängige Entwicklung notfalls auch militärisch abzusichern, machten Russland und China in der letzten Woche mit dem fünftägigen Manöver „Zapad/Interaction-2021“ deutlich. An der gemeinsamen Übung waren rund 10.000 Soldaten beider Länder beteiligt, die sich erstmalig auch mit den neuen Waffensystemen ihrer jeweiligen Partner vertraut machten. Die Übungen, so der Kommentator der „Global Times“, zeigten, dass Russland und China formal zwar keine Alliierten, aber sowohl auf strategischem wie auch auf taktischem Level besser als Alliierte seien. Dies dürfte ein kräftiger Dämpfer für die kriegerischen Ambitionen des Pentagon und seiner Hiwis im Südchinesischen und im Schwarzen Meer wie auch im Persischen Golf sein. Und es lässt Hoffnung keimen, dass nach 40 Jahren US-Intervention und -Krieg auch in Afghanistan Frieden einkehrt.