Warum tötet eine Frau ihr Kind? Die junge Rana möchte das wissen und reist nach Saint-Omer, um dem Prozess gegen Laurence Coly beizuwohnen. Sie ist angeklagt, weil sie bei ansteigender Flut mit ihrer 15 Monate alten Tochter an den Strand ging, das Mädchen dort ablegte und zurück ließ. Am nächsten Morgen fand ein Fischer die Leiche des Kindes.
Der erste Spielfilm der Regisseurin Alice Diop verrät, dass sie bisher vor allem Dokumentarfilme gedreht hat. Kommentarlos verfolgt die Kamera Laurence an den Strand, blendet aber weg, als sie das Kind in den Sand legt. Auch Rana folgt die Kamera vor der Reise nach Saint-Omer in ihrem Alltag als Dozentin, in ihrer Beziehung und beim Besuch bei der Familie, scheinbar zusammenhanglos.
Auch im Gericht bleibt „Saint Omer“, gehandelt als heißer Kandidat für den diesjährigen Oscar in der Kategorie „Internationaler Film“ (gewonnen hat dann aber doch „Im Westen nichts Neues), dokumentarisch. Nah bleibt die Kamera an der teils stoischen, kalten, teils verwirrten und manchmal verzweifelten Angeklagten Laurence, an der Zuschauerin Rana, der ungläubigen Richterin, die sich um Verstehen bemüht, und dem mehr als Abneigung ausstrahlenden Staatsanwalt, der der Angeklagten einen kaltblütigen Mord vorwirft. Die Anwältin spricht ihr Schlussplädoyer direkt in die Kamera, an die Zuschauer gerichtet.
Aber was hat Laurence wirklich angetrieben, nach Saint-Omer zu fahren und das Unaussprechliche zu tun?
Im Laufe des Verfahrens stellt sich heraus, dass die Senegalesin Laurence, die zum Studieren in Paris war, erst selbst nach und nach von der Bildfläche verschwand und dann ihr Kind weder bei den Behörden meldete noch ihrer Familie davon erzählte. Zuvor war sie bei ihrer Tante aus- und bei dem deutlich älteren weißen Mann eingezogen, der der Vater ihrer Tochter werden sollte, hatte die Uni geschmissen und zuletzt das Haus nicht mehr verlassen. Rana berührt Laurence’ Erzählung, denn auch sie verheimlicht ihrer Familie (noch) ihre Schwangerschaft.
Als Vorbild oder Inspiration für den Film diente Alice Diop die Geschichte von Fabienne Kabou, die 2016 wegen Mordes an ihrer 15 Monate alten Tochter in Saint-Omer verurteilt wurde. Diop hatte dem Prozess als Beobachterin beigewohnt. Sie macht mehr als nur Anleihen, etwa wenn sich Laurence auf „Hexerei“ beruft – der psychologische Gutachter hatte sie darum gebeten, in „zu ihrer Kultur passenden“ Ausdrücken über das zu reden, was mit ihr passiert war. Doch über psychische Erkrankungen sprechen will auch der Staatsanwalt nicht. Für ihn ist Laurence ein Monster, das er zu hoher Strafe verurteilt sehen will. Aber auch ansonsten fragt niemand nach, warum sie nicht mehr rausging, wie sie dazu kam, das Kind allein und ohne Hilfe zu Hause zur Welt zu bringen und warum sie den Mann, der sie vor der Welt verheimlicht hat, nicht einfach verließ. Und dabei hatte die geständige Laurence zu Beginn des Prozesses auf die Frage, warum sie ihr Kind an diesem Strand zurückgelassen hat, gesagt: „Ich weiß es nicht, ich hoffe, dass ich es durch dieses Verfahren erfahren werde.“
Durch die dokumentarische Anlage des Films bleiben viele Fragen unbeantwortet, das Gefühl des Grauens, aber auch des Mitleids nimmt in den vielen sprachlosen Szenen zunehmend Raum ein. Nach einer Verantwortung der Gesellschaft für die junge Frau und ihre kleine Tochter fragt von den Protagonisten niemand. Die Frage steht trotzdem unübersehbar im Raum.
Saint Omer
Regie: Alice Diop
Neben anderen mit: Guslagie Malanda und Kayije Kagame
Frankreich 2022, 123 Minuten
Im Kino