Die Konterrevolution aus der KPdSU heraus zerstörte den ersten sozialistischen Staat

Das Volk wollte die Sowjetunion erhalten

Im ersten Teil unserer Serie haben wir uns mit der Situation in der UdSSR nach der Wahl Michail Gorbatschows zum General­sekretär der KPdSU befasst. Die ökonomischen Probleme verschärften sich, da notwendige Reformen in der sowjetischen Wirtschaft planlos durchgeführt wurden. Die Wiederzulassung von Privateigentum und Marktmechanismen führte nicht zu einer Steigerung der Produktivkräfte, sondern verknappte künstlich das Warenangebot. Der Mangel wiederum führte zu enormen Preiserhöhungen und zu einer Ausweitung von Schattenwirtschaft und Korruption.

Politisch war die sowjetische Demokratie erstarrt. Die Menschen erwarteten von Partei- und Staatsführung, dass diese die Probleme für sie lösen. Hinsichtlich der notwendigen Veränderungen verfügten Partei- und Staatsführung über kein klares Aktionsprogramm; der Reformprozess führte nicht dazu, dass die Sowjetbürger ihr Geschick in die eigenen Hände nahmen. Der Kampf gegen die grassierende Korruption wurde nur zu internen Machtkämpfen genutzt. Lockerungen in der Medienlandschaft schufen vom Westen unterstützte antisowjetische Propagandainstrumente, die im Interesse der aufstrebenden Oligarchen handelten. In den Reihen der KPdSU wurden die „Demokraten“ gefördert, die vor allem ihr persönliches Interesse im Auge hatten. Ideologisch lag die Partei am Boden – während alle behaupteten, im Geiste Lenins zu handeln, wurden die wahren Marxisten-Leninisten an den Rand gedrängt.

In dieser Situation spitzten sich vom Ausland geschürt nationale Konflikte zu, was zu einer weiteren Verschärfung der inneren Probleme des ersten sozialistischen Landes der Erde beitrug.

Zu Beginn der 1990er-Jahre ließ Gorbatschow dann die sozialistischen Bruderstaaten der UdSSR fallen wie heiße Kartoffeln. Er stimmte dem Anschluss der DDR an die BRD zu und löste den Warschauer Vertrag auf; die Verpflichtungen gegenüber Entwicklungsländern wie Kuba und Vietnam wurden nicht mehr erfüllt.

Zu Beginn des Jahres 1991 hatte sich folgende Konstellation gebildet: Das Lager um Gorbatschow stellte die Führung der KPdSU und wollte die UdSSR als sozialistischen Staat zerschlagen, die Union allerdings als eigenständigen kapitalistischen Staat beibehalten. Ein weiteres Lager, dessen Marionette Boris Jelzin war, stand an der Spitze der Russischen Sowjetrepublik (RSFSR). Diesem Lager ging es um die Macht in Russland und die eigenen Vorteile. Die marxistisch-leninistischen Kräfte, in der Führung der KPdSU marginalisiert, gründeten als Gegenpol die Kommunistische Partei der RSFSR. Das löste in vielen Unionsrepubliken Ängste vor großrussischen Ambitionen aus.

Das Volk der Sowjetunion litt unter der künstlichen Verknappung von Waren und wurde immer ungeduldiger. 1989 hatte es die ersten Streiks in der UdSSR gegeben. Im Unterschied zu Polen zehn Jahre zuvor gelang es den konterrevolutionären Kräfte indes nicht, diese für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Bis auf einige wenige, die sich von Nationalisten aufhetzen ließen, stellten sich die Sowjetbürger mehrheitlich nicht gegen den eigenen Staat.

In der kommenden Ausgabe der UZ beenden wir die Serie mit den Ereignissen in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre und der Wahl Wladimir Putins zum russischen Präsidenten.

Volksabstimmung

411001 The overthrow of the monument to Dzerzhinsky in front of the KGB on Lubyanka in Moscow - Das Volk wollte die Sowjetunion erhalten - Geschichte der Arbeiterbewegung, Konterrevolution, Sowjetunion - Theorie & Geschichte
SS-Runen auf einem sowjetischen Denkmal. Nach dem Versuch, die Konterrevolution im letzten Moment zu verhindern, ­wurden zahlreiche sowjetische und kommunistische Monumente demoliert. (Foto: Dmitry Borko / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0)

Am 17. März 1991 waren die Sowjetbürgerinnen und -bürger aufgerufen, im Rahmen einer Volksabstimmung über das weitere Schicksal ihres Landes zu entscheiden. Sie hatten die Frage zu beantworten: „Halten Sie es für notwendig, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken als eine erneuerte Föderation gleicher souveräner Republiken zu erhalten, in der die Rechte und Freiheiten einer Person jeder Nationalität uneingeschränkt garantiert werden?“

Nach Angaben der Zentralen Wahlkommission der UdSSR wurden 185,6 Millionen Bürger in die Wahlliste aufgenommen. Die Wahlbeteiligung lag bei 80 Prozent. Davon stimmten drei Viertel oder 113,5 Millionen Menschen mit „Ja“. In der Ukraine sagten 70,2 Prozent und in Belorussland 82,7 Prozent „Ja“ zur Union. In den mittel­asiatischen Sowjetrepubliken lagen die „Ja“-Stimmen sogar zwischen 93,3 Prozent (Aserbaidschan) und 97,9 Prozent (Turkmenistan).

Bemerkenswert ist, dass sich die Menschen nicht nur für die Erhaltung des Staates schlechthin, sondern einer sozialistischen Macht aussprachen. Die Frage zielte ja ausdrücklich auf die Verfasstheit des Staates als Union „sozialistischer“ und „sowjetischer“ Republiken.

In den folgenden Verhandlungen Gorbatschows mit den anderen Gruppen über die vertragliche Ausgestaltung des Referendums verschwand diese Charakterisierung des Staates. Zuerst wurde der Begriff „sozialistisch“ getilgt und dann „sowjetisch“ durch „souverän“ ersetzt. Gorbatschow wollte also der Präsident eines nicht sozialistisch und nicht sowjetisch verfassten Staates sein.

In der Russischen Föderationsrepublik wurde zusätzlich gefragt, ob das Amt eines Präsidenten der RSFSR eingeführt werden solle – mehr als 70 Prozent der beteiligten Russen haben das unterstützt. Das ist nicht verwunderlich, denn in der UdSSR gab es bis zu diesem Zeitpunkt keinen Widerspruch zwischen der Souveränität der Republiken und der Union.

Die Abstimmung war durch das Lager Jelzins als „Gegenschlag“ gegen Gorbatschow konzipiert – ein eigenständiges Russland sollte die UdSSR spalten. Am 12. Juni ließ sich Jelzin zum ersten Präsidenten der RSFSR wählen. Seine erste Maßnahme war das Verbot der Betätigung von Parteiorganisationen in Betrieben. Das richtete sich direkt gegen die Arbeiterklasse und ihre Partei und nahm ihr eine entscheidende Möglichkeit zur Abwehr der Konterrevolution.

Versuchte Gegenwehr

Es folgte eine Reihe destabilisierender Aktionen beider Seiten, die im Westen unterschiedlich wahrgenommen wurden. Nach seiner Wahl zum Präsidenten der RSFSR reiste Jelzin umgehend zu einem Besuch in die USA, wo ihm ausdrücklich Unterstützung zugesagt wurde. Gorbatschow weilte vom 15. bis zum 17. Juli 1991 beim Treffen der G7 in London – er erhielt keine Zusagen für erwünschte Wirtschaftshilfen.

Einen Tag vor Unterzeichnung eines neuen Unionsvertrages, über den sich Gorbatschow mit neun Unionsrepubliken geeinigt hatte, versuchte eine Gruppe von Regierungsmitgliedern und hohen Funktionären am 19. August die Macht zu übernehmen. Das Notstandskomitee setzte Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen ab. Die katastrophale Lage wurde in einem Aufruf überzeugend dargelegt. Viele Parteiorganisationen erklärten sich solidarisch mit dem Komitee und die Werktätigen hegten Hoffnung.

Das Jelzin-Lager überraschte das Notstandskomitee, indem es die Gelegenheit nutzte, um sich medienwirksam gegen den Putschversuch zu inszenieren. Jelzin wurde zum Helden hochstilisiert.

Jelena und Alexander Charlamenko fassen die Ereignisse zusammen: Der Hauptfeind des Notstandskomitees „war die eigene fehlende Bereitschaft, entschieden mit Gorbatschow zu brechen. Es hätte genügt, den beinahe von jedem gehassten Gorbatschow seines Amtes zu entheben und viele der damaligen Anhänger Jelzins wären auf die Seite derjenigen übergegangen, die diesen Schritt vollzogen. Das hätte jedoch den Boykott durch den ‚zivilisierten Westen‘ bedeutet, der in jenen Tagen seine Unterstützung für Gorbatschow und Jelzin zum Ausdruck brachte. Eine Neuauflage des ‚kalten Kriegs‘ in Kauf zu nehmen, den NATO-Truppen an den Grenzen, den ‚Demokraten‘ und Separatisten im Inneren des Landes zu widerstehen – all das hätte eine scharfe Wende nach links erfordert, wozu weder das Notstandskomitee bereit war noch die Mehrheit der Gesellschaft, die zuerst von den Öldollars verführt und dann in den Jahren der ‚Perestroika‘ gespalten und desorganisiert worden war.“

Die Liquidierung der UdSSR

Der Noch-Präsident der UdSSR, Gorbatschow, erklärte am 24. August seinen Rücktritt als Generalsekretär des ZK der KPdSU und rief dieses zur Selbstauflösung der Partei auf. Die Parteiorganisationen in den Republiken und die lokalen Parteiorganisationen sollten selbst entscheiden, was sie machen wollten. Damit war nicht nur über das Schicksal der KPdSU, sondern auch über das weitere Bestehen der UdSSR entschieden!

Nur neun Monate nach dem März-Referendum vereinbarte Jelzin am 8. Dezember 1991 in Geheimverhandlungen im Belowescher Wald mit den Vertretern der Ukraine und Belorusslands, Leonid Krawtschuk und Stanislau Schuschkewitsch, die Beendigung der Existenz der UdSSR. Darüber berichtete er bezeichnenderweise zuerst dem US-Präsidenten George Bush senior – erst später hat er über eine dritte Person den Präsidenten der UdSSR, Gorbatschow, informiert!
Im November 1991 verfügte Jelzin vorsorglich die Auflösung der KPdSU. Am 25. Dezember trat Gorbatschow als Staatspräsident zurück. Es folgte die formelle Auflösung der UdSSR – der aus der Oktoberrevolution hervorgegangene erste sozialistische Staat der Geschichte war Geschichte.

Mundgerechte ­Verwaltungseinheiten

Für die Verhandlungen im Belowescher Wald hatten Jelzin, seine inländische Umgebung und ausländische Berater verschiedene Pläne zur Zerstückelung der UdSSR geschmiedet. Einer dieser Pläne sah laut Nikolai Ryschkow – seinerzeit Ministerpräsident der UdSSR – vor, die Sowjetunion in sieben Teile und die Ukraine in drei Teile zu zerlegen. Der „Generalplan Ost“ des deutschen Faschismus von 1941 sah vor, zehn dem Deutschen Reich unterstellte Territorien zu schaffen.

In einem anderen Plan schlug die CIA vor, das heutige Russland in acht selbstständige Staaten aufzuteilen: die Russische Republik mit Moskau als Hauptstadt, die Nord-West-Republik (Sankt Petersburg), die Wolga-Republik (Saratow), die Kosaken-Republik (Stawropol), die Ural-Republik (Jekaterinburg), die Westsibirische Republik (Krasnojarsk), die Demokratische Republik Sacha (Jakutsk) sowie die Fernöstliche Republik (Wladiwostok). Andere Jelzin-„Patrioten“ planten, den Norden der Halbinsel Kola an Finnland abzutreten, die Kurilen-Inseln an Japan anzuschließen und Kaliningrad an Deutschland zurückzugeben. Wer an derlei Machenschaften ganz besonders interessiert war, zeigt die Erklärung von US-Präsident George Bush senior am 25. Dezember 1991: „Die Vereinigten Staaten begrüßen und unterstützen die historische Wahl zugunsten der Freiheit der neuen Staaten der Gemeinschaft (…) Ungeachtet der Möglichkeit von Instabilität und Chaos entsprechen diese Ereignisse unverkennbar unseren nationalen Interessen.“

Das war also der „patriotische“ Geist, von dem sich Jelzin während seiner gesamten Regierungszeit hat leiten lassen. Russland, einziger weitgehend autarker Staat der Welt, sollte in handhabbare Teile aufgeteilt werden. Es ging den in- und ausländischen Beteiligten nicht darum, die durch die „Perestroika“ erzeugte Destabilisierung zu beseitigen und ein stabiles, dem inneren Wohlstand und äußeren Frieden verpflichtetes Russland zu schaffen, sondern darum, das Chaos zu nutzen, um das imperialistische Prinzip des „Teile und herrsche“ zu verwirklichen und jede Chance auf eine künftig erneut mögliche sozialistische Entwicklung zu vereiteln.

Restauration des Kapitalismus

Der Kapitalismus in Russland entwickelte sich als Kompradorenwirtschaft. Das ist aus dem Memorandum ersichtlich, das die russische Regierung Anfang der 1990er-Jahre anstelle eines Regierungsprogramms erstellte. Es folgte in seinen Hauptzügen und zum Teil wörtlich den Empfehlungen einer Studie, die der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank Anfang 1991 unter dem Titel „Eine Studie über die Sowjetwirtschaft“ vorgelegt hatten. Bezeichnenderweise war das Memorandum der Regierung nicht an die Bevölkerung beziehungsweise an die gewählten Vertretungen Russlands adressiert, sondern an den IWF!

Ende September 1991 landete eine Delegation des IWF in Moskau. Vier Wochen später hielt Jelzin eine Fernsehansprache zu einem Wirtschaftsprogramm, das dem „Memorandum“ entsprach. Zu den wesentlichen Punkten gehörten: Aufhebung der Preisbindung, Privatisierung der Staatsbetriebe, Landreform mit Privatisierung der Kolchosen, Schaffung eines privaten Bauernstandes als wichtige soziale Basis. Kurz danach erhielt Jelzin vom Parlament Sondervollmachten für die Durchführung seiner „Wirtschaftsreformen“. Das Heft des Handelns hatte er nun fest in der Hand.

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"Das Volk wollte die Sowjetunion erhalten", UZ vom 15. Oktober 2021



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