„Om krisen eller kriget kommer“ („Wenn Krise oder Krieg kommt“) heißt die Broschüre, die das schwedische Zivilschutzministerium (MSB) im November vergangenen Jahres an alle schwedischen Haushalte zustellen ließ. Auf 32 bebilderten Seiten lässt sich lernen, was man so braucht, wenn der Krieg kommt. Wie stoppt man den Blutschwall großer Wunden, wie erkennt man Feindpropaganda, wie verhält man sich im Bunker? Fragen, mit denen sich alle Schweden aktuell zu beschäftigen haben. Die Broschüre erklärt auch, weshalb: „Ab dem Jahr, in dem Sie 16 Jahre alt werden, bis zum Ende Ihres 70. Lebensjahres, sind Sie Teil der schwedischen Gesamtverteidigung und müssen im Falle eines Krieges oder bei drohendem Krieg Ihre Pflicht erfüllen“.
Wie Associated Press (AP) kürzlich verbreitete, haben die Broschüre und insbesondere die Forderung des Zivilschutzministers nach ausreichenden Beerdigungsflächen für Kriegstote bereits für Verwerfungen auf dem Immobilienmarkt gesorgt. „Die Bestattungsgesellschaften in Göteborg, Schwedens zweitgrößter Stadt, versuchen derzeit, die Herausforderung zu meistern, mindestens 10 Acres (40.470 Quadratmeter) Land zu erwerben, um sicherzustellen, dass Bestattungsplätze für etwa 30.000 Tote im Kriegsfall zur Verfügung stehen“, heißt es in der Meldung. Schwedens Oberbefehlshaber General Micael Bydén warnt bereits seit dem letzten Frühjahr, dass „Russlands Krieg gegen die Ukraine nur ein Schritt und noch nicht das Endspiel ist“. Wann aber ist das besagte „Endspiel“ zu erwarten?
Alarmstimmung
„Sirenen jammern. Handy-Warntöne schrillen tausendmal. Luftangriffe in Paris, Warschau und Berlin. Cruise Missiles und Drohnenschwärme dringen in den europäischen NATO-Luftraum ein. NATO-Soldaten sind seit Tagen in den baltischen Staaten in Feuergefechte verwickelt. Als Reaktion auf die russischen Angriffe dort löste die NATO Artikel 5 aus. Russland reagierte mit Raketen. Einige Staaten zogen sich aus der NATO und der EU zurück, während ein harter Kern im Norden und Osten heftigen Widerstand leistete. Deutschland und andere Länder sind zerrissen. Während aufgeheizter Proteste in vielen deutschen, französischen, italienischen und spanischen Städten brachen gewalttätige Unruhen aus, und die Polizei muss energische Maßnahmen ergreifen. Extremistische und populistische Parteien profitieren enorm von der Situation, nicht zuletzt, weil der Welthandel und die Wirtschaft zusammenbrechen. Im Indopazifik startet China seit Wochen Angriffe auf Taiwan. Unterdessen verabschieden die Vereinten Nationen Resolutionen gegen die europäischen NATO-Mitglieder, weil viele afrikanische, lateinamerikanische und asiatische Staaten in der Generalversammlung mit Russland und China abstimmen. Klingt das übertrieben? Nein! Wenn Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gewinnt, ist dieses Szenario realistisch.“
So klingt es, wenn die englischsprachige Internetpräsenz von GLOBSEC („globale Denkfabrik mit lokalen Büros in Bratislava, Brüssel, Kiew, Wien und Washington D.C.“, die sich der „Verbesserung von Sicherheit, Wohlstand und Nachhaltigkeit in Europa und der ganzen Welt“ verschrieben hat) vom Kriegsbeginn redet. Wer das verfasst hat? Keine Geringeren als der im „Bayrischen Rundfunk“ als „Kriegs- und Friedensforscher“ vorgestellte Carlo Masala und sein Kollege im Geiste Nico Lange, Senior Advisor bei GLOBSEC, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, der Transatlantic Defense and Security, beim Center for European Policy Analysis (CEPA) in Washington D.C. und Autor wegweisender Artikel wie „Frieden schaffen mit deutschen Waffen“. Treue ZDF- und ARD-Zuschauer kennen ihn auch als „unabhängigen Militärexperten“.
Immerhin haben Masala und Lange verstanden, dass im Kriegsfall Unruhen in ganz Europa losbrechen, die NATO zerfällt, ihr weiterkämpfender Rest international isoliert dasteht. Merkwürdig gleichwohl: Da muss irgendetwas mit der NATO-Propaganda nicht ganz funktioniert haben, schließlich sollte doch der nächste Krieg unter dem Marschbefehl „Freiheit gegen Autokratie“ laufen.
Das Wesen des Krieges
Was ist eigentlich „Krieg“? Dumme Frage, mag man meinen. Kein Naturereignis, das über die Völker kommt, jedenfalls. Ein anderer Aggregatzustand politischer Interessendurchsetzung schon eher. Oder mit Carl von Clausewitz (1780-1831) gesagt: „Der Krieg (ist) nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.“
Dennoch mag überraschend erscheinen, dass sowohl militärstrategisch als auch völkerrechtlich keine über die Plattitüde „bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Staaten, Staatengemeinschaften oder Gruppen“ hinausgehende Definition des Krieges erkennbar ist. Die altertümliche Vorstellung, man spreche von Krieg, wenn „Staat A Staat B den Krieg erklärt“, galt schon in der Genfer Konvention vom 12. August 1949 als überholt. Die Konvention beziehe sich „auf alle Fälle von erklärtem Krieg oder auf andere bewaffnete Konflikte, die zwischen zwei oder mehr der Hohen Vertragsparteien auftreten können, auch wenn der Kriegszustand von einem von ihnen nicht anerkannt wird“, heißt es dort.
In den Folgejahren sprach das Völkerrecht eher kleinteilig von „bewaffnetem Angriff“ (armed attack) und „Aggression“. Begrifflichkeiten, die der Ungeheuerlichkeit des Krieges zwar abträglich waren, immerhin aber konkretisieren konnten, was vonstattengehen muss, um es Krieg zu nennen. Artikel 5d des Rom-Statuts vom 17. Juli 1998 benennt das und liefert anstatt einer Definition wenigstens einen (nicht abgeschlossenen) Katalog von Beispielen wie:
- Invasion oder Angriff durch Streitkräfte eines Staates auf das Territorium eines anderen Staates
- eine mindestens vorübergehende gewaltsame Einverleibung des Hoheitsgebietes eines anderen Staates oder eines Teils davon
- Beschuss oder Bombardement des Hoheitsgebietes eines Staates durch die Streitkräfte eines anderen Staates oder der Einsatz von Waffen jeder Art gegen das Hoheitsgebiet eines anderen Staates
- durch Streitkräfte veranlasste Blockade von Häfen oder Küsten eines anderen Staates
- ein (exterritorialer) Angriff der Streitkräfte eines Staates gegen die Land-, See- oder Luftstreitkräfte eines anderen Staates
- der Einsatz von Streitkräften eines Staates, die sich zwar erlaubterweise auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates befinden, aber unter Verstoß gegen dessen Bedingungen Gewaltakte gegen staatliche Strukturen des Aufenthaltsstaats begehen
- das Entsenden bewaffneter Banden oder Söldner durch einen Staat oder für ihn, wenn diese Gruppen sodann gegen einen anderen Staat schwere Gewaltakte ausführen, wie sie für reguläre Streitkräfte übliche sind.
Vertiefungen der Einzelfälle würden in ein völkerrechtliches Seminar ausarten. Festzuhalten ist: Alle Konturen des Begriffs „Krieg“ sind in stetigem Fluss, sie sind bloße Näherungswerte an ein reales Phänomen. Ist also bereits der „Krieg“ definitorisch recht schwer zu fassen, ergibt sich daraus nahezu zwangsläufig, dass auch die Umstände seines Beginns ins Verschwimmen geraten – zumal keine völkerrechtliche Definition dafür vorliegt, was sein Gegenpart, der „Frieden“, konkret sein soll.
Maßgeblich hat das internationale Agieren des seit 1949 meistkriegführenden Landes auf dem Globus, der USA, dazu beigetragen, das einstmals aufgestellte bipolare Schema der UN-Charta (Angriff/Verteidigung) aufzulösen. Obschon auch präventive Kriegshandlungen laut Charta dem Gewaltverbot unterfallen und damit verboten sind, hat die USA auf internationaler Bühne stets ein präventives Selbstverteidigungsrecht für sich beansprucht. Dass ein Krieg erlaubt sein soll, der als Angriff einem nur drohenden Gewaltakt eines anderen Staates zuvorkommt, kennt man seit der „National Security Strategy of the United States“ (2002/2006) unter Präsident George W. Bush.
Völkerrechtlich war das eine Kehrtwende. Der Präventivschlag geriet zum Alleinstellungsmerkmal der USA und entfaltet in der aktuellen Militärdoktrin auch für die NATO Gültigkeit. Das Ganze nennt sich „Webster-Formel“ (zur Herkunft). Demzufolge erweitert das Militärbündnis das (eigentlich) klar umrissene Selbstverteidigungsrecht der UN-Charta: Ein Angriff unter der Flagge der „Prävention“ soll bei einem unmittelbar bevorstehenden (nicht bereits im Gang befindlichen) Angriff geboten sein, wenn andere Mittel ausscheiden und keine Zeit für weitere Überlegungen bleibt.
Mangelnde Erstschlagfähigkeit
„Die Zeit drängt“ – das ist ohnedies zum Leitmotiv der NATO-Kriegsvorbereitungen geworden. Der NATO-Gipfel in Vilnius im Juli 2023 formulierte „neue Verteidigungspläne – 30 Jahre lang waren sie nicht notwendig, jetzt sind sie es wieder. Sie sollen gewährleisten, dass am Ende jedes NATO-Mitglied weiß, was es zu tun hat und in welcher Situation es gefordert ist“.
Am 30. Oktober 2023 sprach Boris Pistorius im ZDF zum ersten Mal vom Projekt „Kriegstüchtigkeit“, einen Monat später tauchte wie aus dem Nichts der seither bekannte Zeitstrahl auf. Erst „5 bis 8“, dann „5-6“ Jahre, inzwischen lautet die offizielle und bei jeder sich bietenden Gelegenheit wiederholte Sprachregelung „bis 2029“. Aus anderen NATO-Mitgliedsländern hört man das gleiche.
Woher diese Zeitbestimmung stammt, scheint vielen nicht recht erklärlich. Politische Beobachter, die noch einen Rest an Vernunft bewahrt haben, zeigen Unverständnis: „Woher genau diese recht exakten Zeitangaben kommen und welche konkrete Bedrohungsanalyse sich dahinter verbirgt, bleibt im Verborgenen. Einem Russland, das bereits in der Ukraine große Schwierigkeiten hat, seine militärischen Ziele zu erreichen, und von dem zugleich viele, die eine Zeitenwende fordern, behaupten, es könne gegen die Ukraine verlieren, zugleich eine konkrete Bedrohung für Staaten der NATO zu unterstellen, passt nicht recht zusammen“ (Professor Johannes Varwick, Universität Halle, Dezember 2024). Klingt logisch.
Selbstverständlich ist auch zu erwägen, dass es sich bei der Zeitangabe nur um eine Propaganda-Luftnummer der NATO-Oberen handeln könnte, mit dem Ziel, die Bevölkerung auf das, was kommen soll, vorzubereiten. Warum aber fünf Jahre, warum nicht ein Jahr oder zwei? Das klänge doch noch dramatischer. Die Zahl wird eine Bedeutung haben. Bei der Suche nach einer Erklärung stößt man zunächst auf das Strategiepapier der von der Bundesregierung geförderten Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) „Deutschland und die NATO sind im Wettlauf gegen die Zeit“ vom 17. Oktober 2023. Ein Papier, auf das auch in NATO-Publikationen zur „Zeitfrage“ gern und oft Bezug genommen wird.
In der Studie „Aussichten für die Wiederherstellung der russischen Militärmacht – Ein Blick auf die Ostflanke“ des Atlantic Council vom September 2024 werden die Vorarbeiten der DGAP weiter vertieft.
Beide Studien führen, allerdings ohne die empirische Basis ihrer Daten offenzulegen, die „5-Jahres-Prognose“ auf den Zeitraum zurück, den Russland nach dem Ende des Ukraine-Krieges brauchen würde, um den militärisch-industriellen Komplex dauerhaft so hochzufahren, dass – was Rüstungsgüter, Waffensysteme als auch den Personalstand der Streitkräfte betrifft – ein russischer Angriff auf eines der NATO-Mitglieder der Ostflanke (Polen, Baltikum) unmittelbar bevorstehen würde. Unterstellt, das alles wäre richtig, würde die NATO also zuwarten, bis ein russischer Angriff unmittelbar bevorsteht. Gerade angesichts der auf einen Präventivschlag ausgerichteten NATO-Militärdoktrin wäre es jedoch ungleich effizienter, bereits zuzuschlagen, solange sich Russland noch in der Rekonvaleszenzphase befindet. Der tatsächliche Grund des Zeitaufschubs liegt daher in einer (noch) mangelnden Erstschlagfähigkeit der NATO, nicht in einem angeblich auf Zeit drohenden Angriff Russlands auf NATO-Gebiet.
Belege dafür liefert unter anderem das NATO-Briefing vom 3. Juli 2023. Dort erklärte der Vorsitzende des Militärkomitees, Admiral Rob Bauer: „ (…) muss man auch in Zukunft kämpfen können. Dann ging die Arbeit voran und wir begannen, an den regionalen Plänen zu arbeiten, (…) an immer detailliertere Planungen darüber, was man tun muss, um bereit zu sein“. Die Regionalpläne sind: „Einer im hohen Norden und im Atlantik. Der wird vom Joint Force Command Norfolk in den Vereinigten Staaten angeführt (…), der Regionalplan Central, der von Brunssum in den Niederlanden für das Gebiet Ostsee bis zu den Alpen befohlen wird, (…) der Regionalplan Südost, der aus Neapel befehligt wird und sich auf das Mittelmeer und das Schwarze Meer erstreckt“.
Die NATO-Sprecherin Oana Lungescu ergänzte: „Nur um hinzuzufügen, wir haben schon Pläne, die NATO hat immer Pläne. Es ist nicht so, dass wir jahrelang auf Pläne warten. Die Pläne, die wir eigentlich in den Regalen hatten und mit denen wir uns auf eine Situation wie den 24. Februar vorbereitet hatten, wurden am 24. Februar aktiviert, sie bleiben aktiviert“. Zur Zeitfrage wiederum Rob Bauer: „Die Vollziehbarkeit braucht mehrere Jahre. Die Pläne, die SACEUR vorliegen hat, dienen also im Grunde zwei Zwecken: Für den einen ist jetzt der unmittelbare Zeitpunkt, denn wenn ein Krieg jetzt beginnen würde, sollten wir natürlich bereit sein (…) Aber natürlich geht es darum, was wir verbessern sollten. Ich rede über ,volle Ausführbarkeit‘. So wird es ab jetzt sofort weitergehen“.
Und Russland als bevorstehender Aggressor auf NATO-Gebiet? General Rob Bauer: „Also, was wir im Allgemeinen sehen, ist, dass die Russen vorsichtig mit der NATO sind, sie wollen es nicht – sie suchen keinen Konflikt mit der NATO“.
Es liegt allein in der Disposition der NATO, wann sie einen Schlag gegen Russland für erfolgreich erachten wird. Nach welchem Maßstab eine solche Kosten-Nutzen-Abwägung im NATO-Hauptquartier stattfindet? Tote, Verletzte und Leid sind da nicht allzu relevant, weiß auch General Rob Bauer: „While armies win battles, the economy wins the war“ (Während Armeen Schlachten gewinnen, gewinnt die Wirtschaft den Krieg), hieß es auf der Septembersitzung des NATO-Militärkomitees in Prag. Allein davon hängt für sie das Wann und Wo des Krieges ab.