John Reeds „10 Tage, die die Welt erschütterten“

Das Tagebuch der Oktoberrevolution

Von Stefan Kühner

John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, Dietz Verlag Berlin, 1982, nur noch antiquarisch erhältlich; auch Mehring Verlag, Essen, 2011, 274 Seiten, 18,90 Euro. ISBN: 978–3-88634–092-7

John Reed: 10 Tage, die die Welt erschütterten, Dietz Verlag Berlin, 1982, nur noch antiquarisch erhältlich; auch Mehring Verlag, Essen, 2011, 274 Seiten, 18,90 Euro. ISBN: 978–3-88634–092-7

Ein klassenbewusster US-amerikanischer Journalist kommt im September 1917 nach Petersburg und erlebt hautnah die Oktoberrevolution. Sein Buch „10 Tage, die die Welt erschütterten“ ist eine Reportage über eines der bedeutendsten Ereignisse der Weltgeschichte und wohl auch einer der besten Berichte über diese Revolution. Es ist außerdem ein Meisterwerk echten Journalismus. John Reed dokumentiert Argumente und Aussagen aller politischen Kräfte, die an diesen Ereignissen beteiligt sind. Dabei ist er kein neutraler Beobachter. Aber er versucht, wie er selbst in einem Vorwort zu seinem Buch schreibt, „die Ereignisse mit den Augen eines gewissenhaften Reporters zu sehen, der nichts anderes will, als die Wahrheit schreiben“.

Wer die Oktoberrevolution verstehen will, muss sie einordnen in die Geschichte dieses Landes und Europas zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Elend der Arbeiter und Soldaten wurde vor dem Hintergrund des russisch-japanischen Kriegs 1905 immer schlimmer. Im Januar zogen 150 000 Arbeiter in Petersburg zum Winterpalast, um vom Zaren mehr Freiheit, ein Parlament und soziale Verbesserungen zu verlangen. Der Zar ließ am berüchtigten Blutsonntag von Petersburg am 22. Januar die Demonstration niederschießen. Die Matrosen auf dem Panzerkreuzer „Potemkin“ meuterten und im Oktober legten die Eisenbahner das Land lahm. Die Erfolge des Aufbegehrens waren gering. Immerhin wurde dem Zaren ein Parlament, die Duma, abgetrotzt. Die Verhältnisse änderten sich für die Arbeiter und einfachen Bauern aber kaum.

Im März 1917 erfolgte der nächste Schritt. Mitten im 1. Weltkrieg begannen sich die Arbeiter, Matrosen und Bauern selbst zu organisieren und ihre Geschicke in die eigenen Hände zu nehmen. Sie bildeten in allen Regionen des Landes Sowjets. Linke Sozialisten hatten dort die Mehrheit. Der Zar musste abdanken. Parallel zu den Sowjets wurde eine „Provisorische Regierung“ gebildet. Chef dieser Regierung war Alexander Kerenski, Mitglied der Sozialrevolutionären Partei.

Aber die bürgerlichen Kräfte und Generäle hielten noch immer die Fäden der Macht in der Hand. Im September 1917 versuchte General Kornilow – erfolglos – die Kerenski-Regierung wegzuputschen. „Die besitzenden Klassen wollten eine ausschließlich politische Revolution, die dem Zaren die Macht nähme und sie ihnen gäbe. Sie wollten aus Russland eine Republik wie Frankreich oder die USA machen oder eine konstitutionelle Monarchie wie England. Die Massen des Volkes dagegen wollten die wirkliche Revolution in Industrie und Landwirtschaft“, schreibt Reed.

Diese Massen der Arbeiter, kriegsmüden Soldaten und Matrosen sowie schließlich auch die Bauern sind das, was die russische Revolution ausmachte. Es waren nicht einzelne Führer oder kleine Gruppen, die diese Revolution zum Erfolg brachten, sondern vor allem die Arbeiter, „die keine Lust hatten, einen Despoten gegen einen anderen (d. h. die Kapitalistenklasse) auszutauschen“, so Reed. Sie wurden zur Basis der Bolschewiki.

In 10 Kapiteln beschreibt Reed den Lauf der Revolution in der Hauptstadt Petrograd. Er war mittendrin in den Auseinandersetzungen über den „richtigen Weg“. Er verfolgt die Diskussionen in der Duma, den Sowjets der Fabrikarbeiter, der Matrosen und der Bauern. Er war in den Kasernen, wo die Anhänger der verschiedenen politischen Richtungen heftigst debattieren. Er hörte alle die Führer der Kadetten (rechte bürgerliche Kräfte und entschiedene Gegner der Revolution), der Menschewiki und sozialdemokratisch orientierten Parteien und dokumentiert in seinem Buch Ausschnitte aus ihren Reden. Er traf auf Lenin, Trotzki, Alexandra Kollontai. Er war dabei, als revolutionäre Soldaten den Winterpalast stürmten und als am 16. November die revolutionären Aktivisten ihre getöteten Kameraden an der Kremlmauer beisetzten. Und natürlich war er mitten im Zentrum der Revolution – im Smolny. Einst war es ein Kloster und eine Mädchenschule für die Töchter des russischen Adels. Jetzt war es der Hauptsitz des Zentralexekutivkomitees der Sowjets und des Petrograder Sowjets.

Die ersten drei Kapitel „Hintergrund“, „Der heraufziehende Sturm“ und „Am Vorabend“ geben eine Einführung in die politische und gesellschaftliche Situation Ende Oktober in Petrograd und Moskau. Die beiden nächsten Kapitel „Der Sturz der Provisorischen Regierung“ und „Im Sturmschritt voran“ beschreiben die heiße Phase der Revolution und die ersten Erfolge im Kampf um die Macht, einschließlich der Errichtung eines Rats der Volkskommissare als Regierung. Die bürgerlichen, monarchistischen und andere gegnerische Gruppierungen geben sich allerdings keineswegs geschlagen. Sie rüsten zur Gegenrevolution. Die drei folgenden Kapitel „Das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution“, „Die revolutionäre Front“ und „Die Konterrevolution“ zeigen, mit welcher Wucht und mit welchen Methoden die Auseinandersetzungen geführt werden. Hier erfahren die Leserinnen und Leser des Buchs über das Schwanken vieler Repräsentanten und Mitglieder der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien, aber auch über die klare Strategie Lenins und der Bolschewiki. Sie lautete: „Alle macht den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern; Friede, Land, Brot“. Die Kapitel „Sieg“, „Moskau“ und „Festigung der Macht“ beschreiben die Tage ca. eine Woche nach dem Umsturz am 7. November. Die Arbeiter, Matrosen und Soldaten hatten die Macht errungen. Noch aber hatten sich die Verbände der Bauern und das bäuerliche Proletariat nicht für die Revolution entschieden. Im Gegenteil, 80 Prozent des russischen Volkes waren Bauern und ihre Führer hauptsächlich linke Sozialrevolutionäre, die eine bürgerliche Revolution wollten. Die Bolschewiki waren dort nur schwach vertreten. Das letzte Kapitel des Buches, „Der Bauernkongress“, zeigt auf, wie in dieser entscheidenden Phase nicht zuletzt das kluge Vorgehen Lenins dazu beitrug, die Bauern zu überzeugen.

Die Qualität dieses Buchs zeigt sich auch an zwei Blöcken mit Erklärungen und umfangreichem Quellenmaterial, das Reed zusammengetragen hat. Als Vorspann fügte der Autor ein Kapitel ein, in dem die politischen Gruppierungen und die staatlichen bzw. gesellschaftlichen Institutionen vorgestellt werden. Dazu gehören auch die Namen zumindest ihrer führenden Vertreter. Beim Lesen des Buchs hilft dies, um nochmals Verbindungen herzustellen. Der zweite Block enthält 120 Seiten Dokumente. Es sind Dokumente von allen Seiten und politischen Richtungen. Dazu gehören Befehle, Aufrufe, Dekrete und Zeitungsartikel, die täglich in großen Mengen veröffentlicht wurden. Einige behandeln Ereignisse, die vielleicht nicht entscheidend für den Erfolg der Revolution waren, aber revolutionäre Stimmungen beschreiben. Ein kleines Beispiel ist das „Wein-Pogrom“. Um die revolutionäre Disziplin zu zerstören hatten die Kadetten wiederholt Hinweise gegeben, wo es Wein zu plündern gab. Der Rat der Volkskommissare setzte daraufhin zuverlässige Kräfte ein, um Weinkeller samt Inhalt zu zerstören.

John Reeds Buch ist mehr als nur ein herausragendes Geschichtsbuch. Es zeigt auf wie schwierig diese Revolution war. Reed erklärt, dass „in einer Revolution in der hundertsechzig Millionen der am schwersten unterdrückten Menschen in der Welt, plötzlich ihre Freiheit erringen, es begreiflicherweise nicht ohne Verwirrung abgehen kann.“ Die gesamte Phase der 10 Tage ist zum Beispiel geprägt durch eine Presse, die noch zu großen Teilen in Händen der Gegner der Revolution war. Sie trug mit Lügen und Verleumdungen wesentlich zu dieser Verwirrung bei. Wer hier keine Parallelen zur aktuellen Medienwelt erkennt, ist blind.

Auch die Verkehrung von Worten und Begriffen finden wir in diesen Wochen der Revolution in Russland. Die Gegner der Bolschewiki sprechen von der Revolution, die es zu verteidigen gelte. Sie meinen damit aber die bürgerliche Revolution der „Provisorischen Regierung“ unter Kerenski und seinen Leuten. Auch die Aufstachelung von Menschen, die man heute als Mittelschicht bezeichnen würde, gehörten zu den Versuchen, die Revolution zu brechen. Die Streiks im Telefonwesen, in den Banken (Einstellung des Geldverkehrs), in den Ministerien und im Eisenbahnwesen brachten die Bolschewiki mehrmals an den Rand des Scheiterns. Auch hier lassen sich Parallelen zum Beispiel zu Chile, Venezuela und vielen anderen Ländern herstellen.

Das Entscheidende für den Erfolg der Bolschewiki war, um nochmals Reed zu zitieren, „dass sie sich auf die Massen stützten, die inmitten eines Weltkriegs, aus der politischen Revolution heraus die soziale Revolution entwickelten“. Auf Seite 362 formuliert er die Lenin-Taktik mit den Worten „Es war das, was Lenin das ‚An-die-Massen-Appellieren“ nennt.

Lenin formuliert in seinem Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Reeds Buch, „Das ist ein Buch, das ich in Millionen von Exemplaren verbreitet und in alle Sprachen übersetzt wissen möchte. Es gibt eine wahrheitsgetreue und äußerst lebendige Darstellung der Ereignisse, die für das Verständnis der proletarischen Revolution von größter Bedeutung sind.“

Alle Zeitangaben in dieser Rezension beziehen sich auf den bei uns gebräuchlichen Kalender. Er unterscheidet sich vom russischen Kalender um ca. 14 Tage.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Das Tagebuch der Oktoberrevolution", UZ vom 3. November 2017



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit