Brasilien kann eine zentrale Rolle bei der BRICS-Entwicklung spielen

Das südamerikanische Schwergewicht

Die Berufung von Dilma Rousseff, der ehemaligen Präsidentin Brasiliens, zur Präsidentin der New Development Bank (NDB) darf zum einen als eine Verbeugung vor der Lebensleistung und den persönlichen Fähigkeiten der Brasilianerin verstanden werden, aber auch als ein Versuch zur stärkeren Integration des größten und bedeutendsten südamerikanischen Staates in den BRICS-Verbund. Die Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva verfügt nur über eine knappe Mehrheit und es gibt mächtige äußere und innere Gegner des Sozialdemokraten. Lulas zuweilen etwas eigenwilliger Kurs, beispielsweise in der Ukraine-Frage, dürfte nicht zuletzt den taktischen Zwängen und Manövernotwendigkeiten entspringen, die dieser Konstellation entspringen. Wladimir Putin hatte daher Rousseff zur Teilnahme am zweiten Russland-Afrika-Gipfel in St. Petersburg eingeladen. Die NDB spielt eine zentrale Rolle einerseits bei dem Prozess der De-Dollarisierung und andererseits bei der Realisierung infrastruktureller, sozialer, logistischer und ökologischer Projekte. Mit der vor der Tür stehenden massiven Erweiterung des BRICS-Verbunds ist die NDB mit der gigantischen Aufgabe konfrontiert, die ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung großer Teile des Globalen Südens (mit) voranzutreiben. Rousseff erscheint da als die geeignete und integre Person.

Putins Begrüßung von Rousseff im Konstantinowski-Palast vermittelte denn auch den Eindruck einer alten und herzlichen Freundschaft. Die persönliche Ebene reflektiert die politische.

Die Erweiterung der 2002 ins Leben gerufenen RIC-Außenministertreffen zu der dann sich verfestigenden und verstetigenden BRIC-Struktur gelang 2009. Mit der Aufnahme Brasiliens und Südafrikas (2010) in den heute vor einer massiven Erweiterung stehenden BRICS-Verbund unternahmen Russland, China und Indien die ersten Schritte hin zu einer globalen Organisationsstruktur aller Staaten, die nicht mehr gewillt sind, sich den Befehlen Washingtons bedingungslos zu fügen. Der von den USA und der NATO provozierte Ukraine-Konflikt und vor allem die Fähigkeit der Russischen Föderation, sich diesem massierten hybriden Angriff erfolgreich entgegenzustellen, können als ein historischer Wendepunkt gesehen werden, der für die Staaten des Globalen Südens zum ersten Mal die Möglichkeit eröffnet, sich den neokolonialen und neoliberalen Diktaten des „Wertewestens“ und seiner Finanzinstitutionen wie IWF und Weltbank zu entziehen.

Brasilien steht mit seinen 8,52 Millionen Quadratkilometern für rund die Hälfte der geografischen Ausdehnung des südamerikanischen Kontinents und ist nach Russland, Kanada, China und den USA das fünftgrößte Land der Erde. Für das riesige Land – und für den lateinamerikanischen Kontinent insgesamt – ergibt sich nach fünf Jahrhunderten der kolonialen und neokolonialen Ausplünderung, nach der brutalen Unterdrückung und dem großen Morden, das mit dem Eintreffen der Konquistadoren begann und mit der computergestützten Vernichtung jeglicher Opposition in der „Operation Condor“ nicht wirklich endete, zumindest eine Chance auf tatsächliche Souveränität. Ebenso wie der Sieg der Sowjetunion über den Hitlerfaschismus zu einem weltweiten Aufschwung der antikolonialen Bewegungen führte, führt heute der erfolgreiche Kampf Russlands gegen die in der NATO vereinigten Kriegsmaschinen des „Wertewestens“ zu einem Aufschwung der multipolaren, von den Diktaten Washingtons unabhängigen Organisationen. Die aktive Beteiligung Brasiliens an diesem Prozess – interessanterweise hatte sich auch Jair Bolsonaro nicht in die klapprige Phalanx der Russland-Kreuzzügler einreihen lassen – macht es für die schwächeren Staaten des Kontinents wie Argentinien, Mexiko, Uruguay, Venezuela oder Nicaragua einfacher, diesen Weg zu beschreiten.

Unterdrückung und Ausbeutung sind in Brasilien ein halbes Jahrtausend alt. Millionen haben ihr Leben lassen müssen – zuerst durch die Repression der portugiesisch-spanischen Kolonialherrschaft, dann durch die harte militärisch-geheimdienstliche Hand der USA und ihrer lokalen Todesschwadronen. Insbesondere die brasilianische Gesellschaft ist geprägt durch die Jahrhunderte der Sklaverei, die der portugiesischen Krone und ihren Statthaltern zu enormem Reichtum verhalf. Der großflächige Zuckeranbau mit seinen mörderischen Arbeitsbedingungen ließ sich am profitabelsten mit Sklaven aus Afrika betreiben. Dann wurde Gold gefunden, dann Diamanten. Und immer die gleichen Boom-Bust-Zyklen der Spekulation. Die Zucker-, Gold- und Diamanten-Zyklen wurden durch Baumwoll-, Gummi-, Kakao- und Kaffeezyklen abgelöst oder überlagert. Alles in der Regel auf technologisch niedrigem Niveau mit massivem Sklaveneinsatz.

Schon die Konquistadoren waren vom Eldorado-Mythos besessen gewesen. Die in den eroberten Gebieten vorgefundenen goldenen Kultgegenstände erschienen als Beweis dafür, dass sich tief im Innern des Kontinents gewaltige Mengen des Edelmetalls und reiche Lagerstätten befinden mussten. Zahlreiche Expeditionen der „Bandeirantes“ brachen ins brasilianische Landesinnere auf – mit geringem Erfolg. Nach und nach fand man heraus, was dieses Land an wertvollen Bodenschätzen, an fruchtbarem Ackerland, gigantischen Regenwäldern und ausgedehnten Savannen so alles zu bieten hatte. Hier war und ist Profit zu machen. Und dafür waren und sind die Beutemacher und Profitschneider bekanntlich zu jedem Verbrechen bereit.

Vom unterentwickelten Rohstofflieferanten zum industriellen Powerhaus
In den letzten Jahrzehnten konnte Brasilien sein Produktionsspektrum deutlich diversifizieren. Neben der Erzeugung vielfältiger Agrarprodukte fördert der Bergbau wichtige Mineralien, Edelsteine, Fossilenergie und nicht zuletzt auch Gold. Das Land ist zu einer Industriemacht aufgestiegen und steht damit an elfter Stelle im globalen Ranking. Motoren, Gasturbinen, Flugzeuge, Helikopter, Kraftfahrzeuge, Traktoren, Schiffe und vieles mehr werden produziert und exportiert. Die Exporte lagen 2022 bei 280 Milliarden US-Dollar, die Importe bei 234 Milliarden – das Land verzeichnet also eine positive Handelsbilanz.
Brasiliens Industrialisierung begann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, allerdings auf einem sehr niedrigen Niveau. Im Zuge der Herausbildung des Monopolkapitalismus machten die niedrigen Löhne und der große südamerikanische Markt auch Investitionen international tätiger Konzerne profitabel. Schwung in die Sache kam mit der neoliberalen Globalisierung. Zwischen 2000 und 2012 verzeichnete die brasilianische Ökonomie Wachstumsraten von über 5 Prozent. Der seit 1991 unbeschränkte Zugriff des vor allem anglo-amerikanischen Finanzkapitals auf die globalen Boomtowns erbrachte im Ergebnis eine lähmende Deindustrialisierung der kapitalistischen Hauptmächte und einen spektakulären Industrieaufbau in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Letztere, zumindest ihre führenden Schichten und Klassen, sind in gewisser Weise die Profiteure dieses zutiefst widersprüchlichen Prozesses. Brasilien, seit Jahrhunderten ein Objekt der internationalen Spekulation, konnte so seine Abhängigkeiten vom „Wertewesten“ zumindest reduzieren und eine zunehmend souveränere Politik verfolgen.
Die Oligarchie schaffte 1888 schweren Herzens in Brasilien als einem der letzten Länder der Welt die Sklaverei ab. Das Los der nun „befreiten“, aber weiter in Armut, Hunger und Elend gefangenen ehemaligen Sklaven änderte sich danach kaum. Sich selbst überlassen, bauten sie ihre Elendshütten, wo immer es möglich war. In den ausgedehnten über 300 Favelas der großen Städte ist das Erbe bis heute zu besichtigen. In ihnen leben rund 6 Prozent der brasilianischen Bevölkerung. Das Land ist geprägt von extremer sozialer Ungleichheit, welche auch die politischen Verhältnisse determiniert. Der Landbesitz ist in wenigen Händen konzentriert. Keine 500 Agrobarone besitzen die gigantische Fläche von rund 300.000 Quadratkilometern – das entspricht ungefähr der Größe Polens. Hier liegt auch die politökonomische Basis des reaktionären Potenzials, das 2016 – sicher nicht ohne Unterstützung seiner US-Paten – die Entmachtung Dilma Rousseffs durchsetzen konnte. Eine Kraft, die Luiz Inácio Lula da Silva in den Wahlen 2022 nur sehr knapp schlagen konnte und die seinen politischen Spielraum massiv einschränkt.
Mit dem Niedergang der Sowjetunion schien die Gefahr des Kommunismus gebannt. Die „Eliten“ in Washington und Brasilia entschlossen sich 1985 zur Rückkehr zu parlamentarisch-demokratischen Verhältnissen in Brasilien. Angesichts der globalen Dominanz des Imperiums und der strategischen Neupositionierung der internationalen Sozialdemokratie als neoliberale und nicht selten bellizistisch-proimperiale Frontkämpferin durften nun auch Sozialdemokraten die Führung in den Staaten des „Wertewestens“ übernehmen – wobei Lula oder Rousseff nicht mit Gerhard Schröder, Anthony Blair oder gar Olaf Scholz gleichgesetzt werden sollten. Aber man sollte sich auch nicht über die realen Kräfteverhältnisse im Land täuschen. Die Diversifizierung der Ökonomie, der Aufschwung und die ökonomische Internationalisierung haben die Macht der alten Oligarchie relativiert. Wie stark sie dennoch ist, sieht man an den Stimmen für Jair Bolsonaro.

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