Neue Konzepte – Neue Profite?

Das Revival der Atomkraft

Walter Reber

Sie ist wieder da, die Atomenergie – und das im Triumph. Die EU-Kommission hatte am 2. Februar 2022 neben Gas auch die Atomkraft als klimafreundlich bewertet. Damit, so die EU-Finanzkommissarin Mairead McGuinness, wisse der Finanzsektor, dass er investieren könne.

70 Jahre nach Beginn der zivilen Nutzung der Atomenergie – am Anfang stand bekanntlich deren militärische Verwendung – kann man das Fazit ziehen: Immer wieder kommt es zu Unfällen, zur Verwüstung von Landstrichen, zur erhöhten radioaktiven Belastung der Umwelt mit umstrittenen Auswirkungen auf Leben und Gesundheit der Menschen. Und was man mit den hoch radioaktiven Abfällen in den nächsten Hunderttausenden von Jahren machen soll, ist bis heute ungeklärt – es ist noch immer kein Endlager in Betrieb. Auf der anderen Seite gilt aber: Auch die konventionelle Energieerzeugung verwüstet ganze Landstriche und führt etwa durch Luftverschmutzung zu vielen Toten – und der Chemieunfall im indischen Bhopal war in seinen Auswirkungen mit Tschernobyl vergleichbar. Die ganz großen Horrorszenarien der Atomenergie sind bisher nur einmal eingetreten – in Tschernobyl. Ein solcher Reaktortyp wäre aber heute wegen seiner ihm eigenen sicherheitstechnischen Mängel nicht mehr genehmigungsfähig.

Neue Konzepte

Die Internationale Energieagentur erwartet zwischen 2020 und 2030 einen Anstieg des Verbrauchs an elektrischer Energie um mindestens 22 Prozent. Dieser Bedarf muss gedeckt werden, wobei der CO2-Ausstoß gesenkt werden soll. Die Atomenergie ist mit im Rennen, die steigende Nachfrage zu befriedigen. Dabei werden neue Konzepte entwickelt und schon umgesetzt, die mehr Sicherheit versprechen.

Zum einen sind das Flüssigsalzreaktoren, bei denen das spaltbare Material nicht in Form von Brennstäben Verwendung findet, sondern in einer Salzschmelze verteilt ist. Dieser Reaktortyp arbeitet bei Normaldruck und kann so ausgelegt werden, dass er bei einem Störfall aufgrund physikalischer Gegebenheiten auch beim Ausfall externer Energie und Kühlung und selbst ohne Eingreifen des Personals in einen sicheren Zustand übergeht. Praktische Erfahrungen und erprobte Sicherheitsanalysen gibt es nicht. Selbst mittelfristig wird damit also der Energiebedarf nicht gedeckt werden können. Ein erster Flüssigsalz-Versuchsreaktor erhielt in China im Juni dieses Jahres die Betriebserlaubnis; er soll eine thermische Leistung von zwei Megawatt (MW) erreichen. Falls die Versuche erfolgreich verlaufen, soll bis 2030 ein erster Reaktor mit einer Kapazität von 370 MW thermisch gebaut werden.

In den USA soll in Wyoming ein Flüssigsalzreaktor gebaut werden, der schon jetzt als die Zukunft der Atomtechnologie vorgestellt wird. Mit hunderten Arbeitsplätzen und als klar vorgegebenen und sicheren Weg weg von der Kohle preisen Hersteller und Staat wieder einmal das Werk an. Zwei Milliarden US-Dollar Subventionen vom Energieministerium zeigen, wohin die Reise gehen soll.

Ein zweites Konzept ist der Bau sogenannter „kleiner modularer Reaktoren“. Auch bei diesem Reaktortyp bieten physikalische Gegebenheiten mehr Sicherheit als herkömmliche Reaktoren. Das Verhältnis zwischen Volumen und Oberfläche ist bei kleinen Reaktoren günstiger als bei großen, im Störfall würde eine passive Kühlung ausreichen, den Reaktor sicher zu betreiben.

Zudem soll ein solcher Reaktor als Modul im Werk quasi in Serienfertigung – und damit kostengünstig – hergestellt und dann vor Ort je nach Bedarf mit mehreren Modulen kombiniert werden.

Am weitesten fortgeschritten ist der Entwurf des US-Unternehmens NuScale Power Corporation. Das Modul soll einen Durchmesser von 2,7 und eine Länge von 20 Metern haben und dabei 77 MW elektrischer Leistung abgeben. Das Sicherheitskonzept ist jedoch umstritten. Dennoch gehörte zu den Inte­ressenten der Staat Idaho, wo 2029 eine Reaktorfarm hätte installiert werden sollen. Doch das Projekt wurde dieses Jahr aufgegeben – es kam zu übermäßigen Kostensteigerungen. Ein weiteres Projekt ist für die nächsten Jahre in Polen geplant.

Überdies – wie aus dem Lehrbuch der Atomkraftgegner – musste schon 2011 der größte Geldgeber von NuScale, die Kenwood Group, vor Gericht. Sie bekannte sich schuldig, ein „Ponzi-Schema“ betrieben zu haben. Das ist eine Betrugsform, bei der frühe Geldgeber ihr Kapital verzinst erhalten aus den Zahlungen späterer Geldgeber – und nicht aus einer geregelten Geschäftstätigkeit. Noch immer gelten offenbar die Beschreibungen mafioser Strukturen beim Betrieb von Atomkraftwerken, wie sie der Film „Das China-Syndrom“ vorgestellt hatte – dieser hatte mit seinem Kinostart in den USA die späteren realen Vorgänge im Atomkraftwerk Three Mile Island um einige Tage vorweggenommen.

Das hindert Rolls-Royce nicht daran, ebenfalls in das Geschäft mit den modularen Kleinreaktoren einzusteigen. Als kostengünstig, sicher und sauber preist das Unternehmen sein Design an. Zwar gibt es schon Interessenten für eine Zusammenarbeit – aber noch nicht einmal einen Prototyp.

Weltweite Nutzung

438 Atomkraftwerke in 33 Ländern tragen rund 10 Prozent zur weltweiten Stromproduktion bei. In der EU beträgt der nukleare Anteil an der Stromproduktion 25 Prozent. Im vorigen Jahr stagnierte die Atomkraft – sechs neue Kraftwerke gingen ans Netz, fünf wurden stillgelegt. Aber 57 Anlagen sind im Bau, weitere rund 100 Anlagen sind geplant.

Zu den Ländern, die neu in die Nutzung der Kernenergie einsteigen, gehören Ägypten, die Türkei und Bangladesch. Auch Saudi-Arabien plant mittelfristig – ähnlich wie Iran – die Erzeugung von Atomenergie, um Erdöl und Erdgas nicht für den eigenen Verbrauch nutzen zu müssen, sondern verkaufen zu können.

Den stärksten Ausbau der Atomenergie planen China, Russland und Indien. China plant im weltweiten Vergleich die meisten Atomreaktoren. Russland plant den Bau von 25, Indien den Bau von zwölf und die USA planen drei neue Reaktoren.

Auch Frankreich ist vorne mit dabei. Nach Fukushima sollte der Anteil der Atomenergie eigentlich verringert werden, doch im Februar 2022 kündigte der französische Präsident Emmanuel Macron eine „Renaissance der Kernkraft“ an. Dazu sollen bis zu 14 neue Reaktoren gebaut und die Laufzeit sogenannter sicherer Meiler über 50 Jahre hinaus verlängert werden – ein entsprechendes Gesetz wurde dieses Jahr beschlossen. Frankreich will nun bis 2035 „kleine modulare Reaktoren“ und sechs neue EPR2-Reaktoren bauen. Nicht unerwartet drängte Paris die EU, die Atomenergie als „grüne Energie“ zu deklarieren.

Im Ausbau der Atomenergie treffen sich die Interessen der französischen und der chinesischen Industrie. Nach 40 Jahren der Zusammenarbeit in Forschung und Technologie der Atomenergie unterzeichneten im April dieses Jahres die chinesische General Nuclear ­Power Group (CGN) und die französische Électricité de France (EDF) eine Absichtserklärung über die Zusammenarbeit bei der weiteren Entwicklung und dem Betrieb von Nuklearanlagen.

Für die chinesische Regierung ist der Ausbau der Atomenergie unverzichtbar. Ein „Blaubuch“ beschreibt den Stand der Entwicklung: 24 Atomreaktoren sind im Bau, die 54 bestehenden Reaktoren wurden lange Zeit stabil und sicher betrieben, heißt es darin.

Für die Länder mit stark steigendem Energiebedarf wie Indien und China, die den Anteil des Kohlestroms verringern wollen, gilt die Atomenergie als Mittel der Wahl. Insbesondere China betreibt eine pragmatische Energiepolitik mit dem Ausbau der erneuerbaren Energieproduktion, dem Ausbau der Atomenergie und dem Hochleistungstransport von Produktionszentren zu Verbrauchszentren. Und auch in China geht der Trend zu kleinen Anlagen, die nahe bei den Verbrauchern gebaut werden sollen. Der erste Reaktor dieses Typs heißt „Linglong-1“ und leistet 125 MW. Er wird auf der Halbinsel Hainan gebaut, die für Chinas Militär und Raumfahrt von strategischer Bedeutung ist. Das zeigt, wie hoch das Vertrauen der chinesischen Regierung in diese Technik ist.

Kosten und Ökobilanz

Neue Reaktortypen – vor allem die kleinen modularen Anlagen – sollen Strom kostengünstig und mit geringem CO2-Ausstoß produzieren. Schätzungen gehen für diese Anlagen von Erzeugungskosten von 120 Dollar pro Megawattstunde (MWh) aus. NuScale wollte Strom zu Kosten von 102 Dollar pro MWh erzeugen, wenn man die Subventionen herausrechnet. Doch war das zu optimistisch – Kostensteigerungen ließen Investoren abspringen. Für Solar-Freiflächenanlagen geben Schätzungen für 2023 zum Teil deutlich geringere Kosten an: Sie sollen zwischen 25 und rund 100 Dollar pro MWh liegen.

Und selbst die Vorteile bei der CO2-Bilanz von Atomkraftwerken sind fraglich. Wenn man versucht, über Bau, Betrieb und Entsorgung die entstehenden CO2-Emissionen zu bilanzieren, führt die Windkraft mit 11 Gramm CO2 pro Kilowattstunde (kWh), Solarenergie liegt bei 40 und Kohlestrom bei über 800. Strom aus Atomenergie liegt bei den günstigsten Schätzungen wie die Windkraft bei 11 Gramm CO2 pro kWh. Realistischer dürfte der auch wissenschaftlich verwendete Wert von 60 Gramm CO2 pro kWh sein – also vergleichbar mit den Angaben für Solarenergie.

Aus ökologischen Gründen oder aus Gründen des Klimaschutzes bieten auch die neuen Konzepte von Atomkraftwerken keine Vorteile gegenüber anderen Techniken. Das „triumphale Revival“ der Atomkraft ist wohl mehr der Energie der Lobbyisten zu danken als echtem Fortschritt. Es bleiben Risiken im Betrieb sowie bei Entsorgung und Endlagerung, die die Risiken bei anderen Techniken der Energieproduktion weit übersteigen.

Letztlich zählt, was die EU-Finanzkommissarin McGuinness formulierte: Der Finanzsektor weiß, dass er investieren kann – und profitieren.

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"Das Revival der Atomkraft", UZ vom 15. Dezember 2023



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