I.
Am 24. Dezember legte das Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) der Vereinten Nationen seinen 249. Bericht zur humanitären Lage im Gaza-Streifen vor. Wie immer sind in diesem Bericht sämtliche kriegsbedingte Vorfälle der letzten Tage aufgeführt, die zu Toten, Verletzten, Vertriebenen und Traumatisierten geführt haben. Einige Auszüge:
„Nord-Gaza steht weiterhin nahezu vollständig unter Belagerung. Seit dem 1. Dezember haben die israelischen Behörden 48 von 52 UN-Versuchen zur Koordinierung des humanitären Zugangs abgelehnt, während vier genehmigte Bewegungen alle mit Hindernissen konfrontiert waren. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums (MoH) in Gaza wurden zwischen den Nachmittagen des 17. und 24. Dezember 279 Palästinenser getötet und 723 verletzt. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 24. Dezember 2024 mindestens 45.338 Palästinenser getötet und 107.764 verletzt“. Im gleichen Zeitraum „wurden nach Angaben des israelischen Militärs und offizieller israelischer Quellen, die in den Medien zitiert wurden, mehr als 1.589 Israelis und Ausländer getötet, die meisten davon am 7. Oktober 2023 und unmittelbar danach. Die Zahl umfasst 389 Soldaten (…) seit Beginn der Bodenoperation (wurden) 2.494 israelische Soldaten verletzt gemeldet“.
„Etwa 1,7 Millionen Menschen in Zentral- und Süd-Gaza sind mit einem Mangel an Mehl und anderen Vorräten (…) konfrontiert. (…) In Gaza-Stadt stehen nur noch drei Beatmungsgeräte für Säuglinge zur Verfügung (…) während Ärzte dem UNRWA mitteilen, dass Frühgeborene und Patienten mit behandelbaren Krankheiten aufgrund erschöpfter medizinischer Versorgung und fehlender lebensrettender Ausrüstung sterben“.
II.
Am Vormittag des 24. Dezembers verbreitete der Sender „All Israel News“ die Weihnachtsgrüße des vom Internationalen Strafgerichtshof zur Festnahme ausgeschriebenen israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Er wandte sich an die „lieben christlichen Freunde“, die „uns standhaft, konsequent und entschlossen zur Seite standen, während Israel unsere Zivilisation gegen die Barbarei verteidigt“. Israel führe „weltweit den Kampf gegen die Kräfte des Bösen und der Tyrannei an, doch unser Kampf ist noch nicht beendet. Mit eurer Unterstützung und mit Gottes Hilfe versichere ich euch: Wir werden siegen“.
Im Berliner Regierungsviertel dürfte sich Genugtuung ob dieses Danks breit gemacht haben, sind doch seit August wieder Waffenlieferungen an Israel im Wert von 94 Millionen Euro bewilligt worden. Im ganzen Jahr 2024 waren es, wie das Bundeswirtschaftsministerium am 18. Dezember mitteilte, Rüstungsgüter im Gesamtwert von 161 Millionen Euro. Überhaupt lief das Geschäft mit der Tötungsmaschinerie aus Deutschland im zu Ende gehenden Jahr besser als alle anderen Exporte: Verkauft wurde Kriegsgerät im Wert von 13,2 Milliarden Euro, gegenüber noch 12,13 Milliarden Euro im Vorjahr.
Nach seinem Weihnachtsgruß eilte Netanjahu in einen für ihn hergerichteten Tel Aviver Bunker, um von dort zu seiner sechsten Anhörung als Angeklagter vor dem Jerusalemer Bezirksgericht zugeschaltet zu werden. Die Anklage wegen Korruption und Bestechung wird seit Mai 2020 verhandelt, 300 Zeugen wurden vernommen. Laut Prozessbericht der „Times of Israel“ vom Abend des 24. Dezember hält Netanyahu das alles für „lächerlich“. Gerichtsverfahren können ihm nichts anhaben, meint er. Nachlesen kann man das auch auf der Internetseite seines Prime Minister’s Office in der Presseerklärung zu dem im November gegen Netanjahu wegen Völkerrechtsverbrechen in Vollzug gesetzten internationalen Haftbefehl: „Die Entscheidung, einen Haftbefehl gegen den Premierminister zu erlassen, wurde von einem korrupten Chefankläger getroffen, der versucht, sich vor sexuellen Belästigungsvorwürfen und voreingenommenen Richtern zu retten, die durch antisemitischen Hass auf Israel motiviert sind“.
Nicht nur bei Staatsanwaltschaft und Strafgerichtshof in Den Haag sieht Netanjahu antisemitische Motive, wenn es um den Krieg in Palästina geht. Er vermutet diesen Sachverhalt auch bei der Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, wie sich im Wortprotokoll seiner Rede auf der UN-Generalversammlung vom 27. September 2024 nachlesen lässt:
„The singling out of the one and only Jewish state continues to be a moral stain on the United Nations. It has made this once-respected institution contemptible in the eyes of decent people everywhere. But for the Palestinians, this UN house of darkness is home court. They know that in this swamp of antisemitic bile, there’s an automatic majority willing to demonize the Jewish state for anything. In this anti-Israel flat-earth society, any false charge, any outlandish allegation can muster a majority.“
„Die Ausgrenzung des einzigen jüdischen Staates ist nach wie vor ein moralischer Schandfleck für die Vereinten Nationen. Sie hat diese einst angesehene Institution in den Augen anständiger Menschen überall verächtlich gemacht. Aber für die Palästinenser ist dieses Haus der Finsternis der Vereinten Nationen ein Heimspiel. Sie wissen, dass es in diesem Sumpf aus antisemitischer Galle automatisch eine Mehrheit gibt, die bereit ist, den jüdischen Staat für alles zu verteufeln. In dieser israelfeindlichen Gesellschaft der flachen Erde kann jede falsche Anschuldigung, jede haarsträubende Behauptung eine Mehrheit aufbringen.“
Wer meint, hier sei der israelische Premierminister aus persönlicher Betroffenheit womöglich über das Ziel hinausgeschossen, möge sich an den Bericht der „Tagesschau“ vom 10. Mai 2024 zu der am gleichen Tag von der Vollversammlung der UN verabschiedeten Palästina-Resolution erinnern:
„Vertreterinnen und Vertreter Palästinas dürfen künftig auch zu Themen sprechen, die nicht mit dem Nahostkonflikt zu tun haben. Sie können auch Änderungsanträge für Beschlüsse einreichen oder neue Tagesordnungspunkte vorschlagen. Die Resolution fordert andere Gremien der Vereinten Nationen auf, Palästina ähnliche Rechte zu gewähren. Für die Resolution stimmten 143 Länder, 9 Staaten dagegen. 25 Länder enthielten sich – darunter auch Deutschland. Die USA lehnten den Antrag ab.“
Der israelische UN-Botschafter erklärte sich laut „Tagesschau“ wie folgt: „Die UN stehe davor, ,die Errichtung eines palästinensischen Terrorstaates voranzutreiben‘, sagte der israelische UN-Botschafter Gilad Erdan vor der Vollversammlung. ,Sie haben die Vereinten Nationen für moderne Nazis und völkermörderische Dschihadisten geöffnet, die sich für die Errichtung eines islamischen Staates in ganz Israel, in der Region, einsetzen.‘ Es mache ihn ,krank‘. Erdan schredderte vor dem Rednerpult in einem symbolischen Akt Zettel, auf denen ,Charta der Vereinten Nationen‘ stand. Mit den Worten ,schämen Sie sich‘ beendete er seine Rede“.
143 von 193 Staaten rund um den Erdball, die durch ihre Resolution „moderne(n) Nazis und völkermörderische(n) Dschihadisten“ den Weg gebahnt haben?
III.
Das Internetportal „Legal Tribune Online“ (LTO) berichtete am 12. Dezember 2024 unter dem Header „Beim Kampf gegen Antisemitismus darf es keine Strafbarkeitslücken geben“ über die Tagung „Antisemitismusbekämpfung mit dem Strafrecht“, die Anfang Dezember in Berlin unter Federführung der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und des mit Fördermitteln des Bundesinnenministeriums gesponserten Tikvah Instituts gemeinnützige UG (haftungsbeschränkt), Geschäftsführer ist der frühere Bundestagsabgeordnete der Grünen, Volker Beck, abgehalten worden ist.
Über die Vorgeschichte hatte UZ in der Ausgabe vom 16. Februar 2024 berichtet. Im Herbst 2023 schlug der hessische Justizminister Roman Poseck (CDU) vor, die selbsterklärte deutsche „Staatsräson“ zum Schutz des israelischen Staates durch eine Ausweitung des Strafrechts abzusichern. In der Herbstkonferenz der Justizminister am 10. November des vergangenen Jahres wurde die Idee vertieft und von den Juristen der CDU-Bundestagsfraktion in den Gesetzentwurf „zur Bekämpfung von Antisemitismus, Terror, Hass und Hetze“ gegossen.
Zentraler Punkt: Eine Neuformulierung des Volksverhetzungsparagrafen 130 des Strafgesetzbuches (StGB). Bis zu fünf Jahren Haft für den, der „das Existenzrecht des Staates Israel leugnet oder zur Beseitigung des Staates Israel aufruft“. Vor dem Hintergrund massiver Bedenken verschiedener Strafrechtsprofessoren in der Sachverständigenanhörung im Januar dieses Jahres (die strafrechtliche Einordnung der Leugnung des Holocaust könne nicht bruchlos auf den Schutz Israels als Staat übertragen werden), verebbte das regierungsamtliche Interesse am CDU-Vorschlag.
Das Tikvah-Institut hatte seinerzeit in die Diskussion geworfen, einen eigenen neuen Straftatbestand zum Schutz der besagten Staatsräson einzuführen, nämlich unter der Überschrift „Aufruf zur Vernichtung eines Staates“ einen neuen Paragraf 103 StGB zu schaffen. Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe soll bestraft werden, wer zur Vernichtung eines Staates, der Mitglied der Vereinten Nationen ist, aufruft oder diese billigt. Die Formulierung „eines Mitgliedsstaates der Vereinten Nationen“ wurde gewählt, um sich kein völkerrechtliches Problem aufzuhalsen – aber es weiß ja jeder, was gemeint ist.
Der positive Zusatzaspekt: Es lassen sich beliebig andere Länder rund um den Globus in die Reihe strafrechtlich geschützter Objekte aufnehmen. Und da Palästina ja (noch) kein Vollmitglied der UN ist, hat es nach deutschem Recht in Zukunft kein Existenzrecht. Wie das mit der propagierten Zwei-Staaten-Lösung in Einklang zu bringen ist, bleibt dabei erst einmal offen. Außerdem passt die Ziffer 103 StGB, stand dort doch bis zur Streichung der alten Fassung am 2. Juni 2017 etwas zur Verfolgung der „Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten“.
Harmonisch fürs Verständnis auch der Folgeparagraf 104 StGB, der seit 2020 das Verbrennen ausländischer Flaggen mit Strafe bedroht. LTO: „Auch hier ging es zunächst um israelische Flaggen, aber aus Angst vor einer Verfassungswidrigkeit wurden dann die Flaggen aller Staaten, zu denen Deutschland diplomatische Beziehungen pflegt, unter Schutz gestellt.“ Und die Flaggen der Staaten, mit denen wir keine Beziehung pflegen, kann man folglich straffrei verbrennen?
Woran die klugen Rechtsstrategen in ihrer Begeisterung über einen neuen Paragraf 103 StGB allerdings nicht recht nachgedacht haben: Wie verhält es sich in Zukunft mit Taiwan, das seit 1971 keinen Sitz in der UN hat? Kann man da jetzt ungestraft davon sprechen, Taiwan gebe es als Staat nicht? Stimmt die Ein-China-Politik, dem die meisten Staaten der Welt und auch die UN folgen, also doch? Aber was sagt dann unser NATO-Premium-Partner, die USA?
Es kommt noch schlimmer: Müssen jetzt etwa in Zukunft Äußerungen strafrechtlich verfolgt werden, die davon handeln, man müsse Russland (immerhin UN-Mitglied) „ruinieren“, den Krieg in seine Hauptstadt tragen? Werden da nicht die Stützen unserer wertebasierten Rechtsordnung von Strafe bedroht? Nicht auszudenken, die Sanktionspakete 1-15 der EU – kommt das ganze EU-Parlament in den Knast? Und all die schönen Regime-Change-Projekte, was wird in Zukunft aus ihnen?
Vielleicht doch noch mal nachdenken – oder es gleich ganz lassen.