100 Jahre Rote Hilfe

Das Prinzip Solidarität

Rolf Meier

Im Oktober 2024 jährt sich die Gründung der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) zum 100. Mal. Die politische Solidaritätsorganisation der revolutionären Arbeiterbewegung wurde in ihrer wechselvollen Geschichte schnell zu einer echten Massenorganisation. Sie war auch nach 1933 noch in tiefster Illegalität wirksam. Ab 1968, also Jahrzehnte nach ihrer Auflösung 1936, griffen Aktivisten der außerparlamentarischen Opposition und die entstehenden linksradikalen Gruppen und Organisationen der Folgezeit den Gedanken der Roten Hilfe (RH) wieder auf. Die heutige Rote Hilfe e. V. geht darauf zurück. Heute ist sie eine der größten Organisationen der politischen Linken in Deutschland.

Erste Ansätze

Bereits 1919, nach der Niederschlagung der bayerischen Räterepublik, entstanden im Umfeld der USPD erste Unterstützungskomitees für die verfolgten Revolutionäre und ihre Familien. Eine noch größere Dimension erreichte die politische Verfolgung in der Weimarer Republik, nachdem im März 1921 die Arbeiterunruhen im Mansfelder Land niedergeschlagen worden waren. Tausende wurden eingesperrt, viele wurden zu politischen Flüchtlingen. Ihre Familien standen mittellos da. Spendensammlungen mussten organisiert, Rechtshilfe und Öffentlichkeitsarbeit mussten geleistet werden. Hinzu kamen die Erfordernisse der „Emigrantenarbeit“.

In dieser Situation rief die KPD über die „Rote Fahne“ im April 1921 zur Gründung von Rote-Hilfe-Komitees in allen Landesteilen auf. Diese Komitees entstanden als lose Struktur, anfangs unter Beteiligung von USPD und KAPD. Letztere zog sich bald wieder zurück und die USPD-Mehrheit ging zur KPD über. So blieben die RH-Komitees ein Arbeitsbereich der KPD-Gliederungen. Das funktionierte mit großen Schwierigkeiten: Zum einen verfolgten Polizei und Justiz schon bald auch die Komitees, zum anderen wirkten sich innerparteiliche Auseinandersetzungen und häufige Unzuverlässigkeit mancher Akteure negativ aus. Dennoch erbrachten die Sammlungen große Beträge für die Gefangenen und ihre Familien. Im Krisen- und Inflationsjahr 1923 war die Solidaritätsarbeit auf Spenden in harter Währung aus dem Ausland angewiesen, etwa aus den USA. Dies war möglich, weil auch in anderen Ländern politische Solidaritätsorganisationen entstanden waren, maßgeblich auch in der Sowjetunion. Dort gründete sich, im Kontext der Komintern, 1923 die Internationale Rote Hilfe (IRH). An der Spitze des Exekutivkomitees der IRH stand Clara Zetkin.

Die Gründung

Eine Zäsur kam im Herbst 1923 mit der Niederlage der Einheitsfrontregierungen in Sachsen und Thüringen und dem Scheitern des Hamburger Aufstands. Wieder wurden Tausende verfolgt und eingesperrt, KPD und Rote Hilfe wurden verboten. Erst Ende Februar 1924 wurden die RH-Komitees wieder legalisiert. Angesichts der dramatischen Ausmaße der Verfolgung entbrannte eine Organisationsdebatte. Schließlich wurde der Beschluss gefasst, die Rote Hilfe als eigenständige, überparteiliche, formal unabhängige Organisation zu gründen. Die Arbeit sollte effektiver und die gesellschaftliche Reichweite vergrößert werden. Im Oktober 1924 schließlich wurde die Gründung der Rote Hilfe Deutschlands (RHD) vollzogen. Formal galt sie – zum Schutz vor Verfolgung – nicht als Sektion der IRH, auch wenn sie in deren Struktur mindestens genauso wie Hilfsorganisationen anderer Länder vertreten war. Vorsitzender ihres Zentralvorstands wurde Wilhelm Pieck.

Die RHD verzeichnete über Einzel- und Kollektivmitgliedschaften einen raschen Zuwachs. Sie entwickelte, gestützt auf eine Vielzahl von Ortsgruppen, eine rege Kampagnenarbeit. Die Kampagnen waren fokussiert auf besonders bekannte politische Gefangene wie Max Hoelz oder Sacco und Vanzetti – oder es ging um ganze Gruppen von Verfolgten in anderen Ländern, zum Beispiel Polen und Bulgarien. Das damit erreichte Spektrum ging weit über die KPD-Anhängerschaft hinaus. Bekannte Wissenschaftler und Künstler unterstützten viele Aufrufe der RHD und warben für ihre Ziele. Das kam auch bei den Kindererholungsheimen der Roten Hilfe wie etwa in Elgersburg in Thüringen und dem Barkenhoff in Worpswede bei Bremen zum Tragen. Dort organisierte die RHD schon seit 1923 Erholungsaufenthalte für Kinder politisch Verfolgter. Es gab eigenständige Spendenkampagnen und viele Unterstützer, darunter der Maler Heinrich Vogeler.

Wachsender Einfluss

Ihre Arbeit propagierte und organisierte die RHD nicht zuletzt über ihre Presse, besonders durch ihre überregionalen Zeitungen „Roter Helfer“ bis 1928 und danach „Tribunal“. Sie versuchte, ihre Themen in moderner, ansprechender Gestaltung an ein Massenpublikum zu bringen, unter anderem mit Fotomontagen von John Heartfield. In den Bezirken gab es regionale Zeitungen, hinzu kamen zentrale Funktionärszeitungen zur Anleitung der Gliederungen.

In der alltäglichen Rechtshilfe- und Gefangenenhilfearbeit spielten Anwälte, die bereit waren, auch politisch aufzutreten und zu verteidigen, eine zunehmende Rolle. Von über 100 Anwälten ist bekannt, dass sie manchmal oder regelmäßig mit der RHD kooperierten. Der Anwalt und KPD-Abgeordnete Felix Halle veröffentlichte grundlegende Ratgeber für die politische Rechtshilfe und unterstützte andere Anwälte in ihrer Arbeit durch die von ihm gegründete Juristische Zentralstelle. Besonders bekannt wurde der junge Anwalt Hans Litten. Ihm gelang es, in mehreren sehr bekannt gewordenen Verfahren Arbeiter, die wegen Ausein­andersetzungen mit Faschisten angeklagt wurden, erfolgreich zu verteidigen. Adolf Hitler wurde in einem der Prozesse bei einem Auftritt als Zeuge von Litten demaskiert, als er seine Kriegspläne ungewollt ausplauderte.

Die RHD war über die kommunistischen Fraktionen (Komfraktionen) angebunden an das Geschehen in der KPD. Fraktionskämpfe und Abspaltungen fanden auch hier ihren Niederschlag. In der RHD hatten die späteren Anhänger der KPD-Opposition (KPO) starke Positionen inne. Ebenso wie in der KPD setzte sich zeitversetzt auch in der RHD der linke Flügel durch. Es kam zum Ausschluss der sogenannten Schlör-Gruppe, zahlreiche Austritte folgten 1929. Als Konsequenz entstand die der KPO nahestehende Internationale Hilfsvereinigung (IHV), die aber nicht an die Wirksamkeit der RHD anknüpfen konnte.

Illegalität und Auflösung

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise verschärften sich die Klassenkämpfe in Deutschland. Massenarbeitslosigkeit, faschistischer Straßenterror und immer neue Angriffe gegen soziale und politische Rechte der Arbeiterklasse durch Regierung und Kapital führten auch zu mehr Repression. Wieder waren Tausende inhaftiert. Die RHD hatte wieder starken Zulauf – und doch waren die Kosten der Solidaritätsarbeit immer weniger aufzubringen. Große Werbekampagnen wurden geführt, um noch mehr Mitglieder zu gewinnen. Nach der Machtübertragung an den Hitlerfaschismus Ende Januar 1933 wurde die RHD verboten. In der Illegalität versuchte sie noch bis 1934, bestimmte Formen der Massenarbeit aus der Zeit davor beizubehalten. Die Strukturen der RHD mussten durch Verhaftungen große Einbrüche hinnehmen. Nach und nach wurden jedoch viele Bezirke wieder aufgebaut, angeleitet und unterstützt von Exilstrukturen im benachbarten Ausland. Mit der Hinwendung von KPD, Komintern und IRH zur Volksfrontstrategie ab 1935 setzte auch für die RHD ein weiterer Umbruch ein. Ihre stark dezimierten Kräfte wie auch andere Arbeiterorganisationen verschmolzen mehr oder weniger miteinander. Lokale Rote-Hilfe-Arbeit fand nachweisbar weiter statt, aber als Organisation wurde die RHD 1936 aufgelöst, die IRH formell erst 1943.

Nach der Befreiung vom Faschismus und im beginnenden Kalten Krieg spielte die Rote Hilfe keine Rolle mehr. In begrenztem Umfang gab es in der DDR Formen des Gedenkens und später erste Forschungen, in der BRD vorerst gar nicht.

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Plakat des Rote-Hilfe-Komitees Westberlin von 1973 (Foto: Hans-Litten-Archiv)

Neubeginn

Erst 1968 wurde in der BRD der Rote-Hilfe-Gedanke von den radikaleren Teilen der Studenten- und Lehrlingsbewegung wieder aufgegriffen. Angesichts vieler polizeilicher Festnahmen und Strafverfahren wegen Protestaktionen entstanden Unterstützungskomitees für die Verfolgten. Ab 1970 entstanden erste Rote-Hilfe-Gruppen. Sie waren angebunden an die jeweilige politische Gruppe der maoistischen oder spontaneistischen Linken, aus der heraus sie gegründet wurden. So gab es in einigen Städten bald konkurrierende Rote-Hilfe-Gruppen und -Organisationen. Bundesweite Strukturen bildeten die KPD/ML mit der RHD sowie die KPD/AO mit der Roten Hilfe e. V., andere Gruppen schufen lose Zusammenschlüsse. In Abgrenzung zu den Rote-Hilfe-Gruppen entstanden lokal auch Schwarze Hilfe und Bunte Hilfe. Die Ausrichtung aller dieser Gruppierungen orientierte sich meistens an der jeweiligen politischen Herkunft. Damit stieß RH-Arbeit immer wieder an enge Grenzen. Etwa, wenn es um Mobilisierungen für eine Kampagne ging. Dennoch konnte in dieser bewegungsreichen Zeit sehr viel aktive Solidaritätsarbeit geleistet werden, so zum Beispiel für die aufkommenden sozialen Bewegungen oder die Gefangenen aus der RAF und anderen militanten Gruppen.

Krise und Kontinuität

Mit dem Niedergang der maoistischen Organisationen gerieten auch deren Rote-Hilfe-Ableger in eine Krise. 1980 löste sich die Rote Hilfe e. V. auf. Die RHD öffnete sich langsam für Aktivisten aus dem autonom-spontaneistischen Spektrum. Sie vollzog einen Kurswechsel hin zu einer strömungsübergreifenden Solidaritätsorganisation. Als 1986 die Auflösung drohte, konnte eine Mehrheit dies verhindern. Entgegen dem krisenhaften Trend innerhalb der Linken der BRD erhielt die nun in Rote Hilfe e. V. umbenannte Organisation nach und nach wieder Zulauf. In den 1990er-Jahren führte unter anderem die Verfolgung von Antifaschisten und Castor-Gegnern zu deutlich steigenden Mitgliederzahlen. Nach dem Anschluss der DDR wurden viele ihrer Funktionsträger juristisch verfolgt. Das war eine politische Herausforderung für die Rote Hilfe, die in ihrer großen Mehrheit geprägt war von der westdeutschen (antisowjetischen) Linken und von der DDR-Opposition. Nach kontroverser Diskussion erklärte sich die RH 1996 solidarisch mit den verfolgten DDR-Funktionsträgern. Die Rote Hilfe e. V. setzt sich seit 1993 ein für durch das PKK-Verbot verfolgte Kurden, für Mumia Abu Jamal und viele andere. Viele Pressemitteilungen zu unterschiedlichsten Fällen politischer Verfolgung sind herausgegeben worden. Die Rote Hilfe war immer ein Beobachtungsziel der Verfassungsschutzbehörden, die aber die politische Solidarität damit nicht verhindern konnten.

Das Hans-Litten-Archiv e.V. mit Sitz in Göttingen sammelt Materialien zur Geschichte der Roten Hilfe und macht sie der Öffentlichkeit zugänglich. Auf der Homepage hans-litten-archiv.de sind viele Zeitschriften und Dokumente sowie Sekundärliteratur zur Geschichte der Roten Hilfe zu finden. Der Bestand wird laufend ergänzt. Die Rote Hilfe e. V. hat aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums eine Ausstellung und einen Film erstellt und führt viele Veranstaltungen durch:
rote-hilfe.de/100-jahre-rote-hilfe

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"Das Prinzip Solidarität", UZ vom 5. April 2024



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