Die Wiedereroberung der Arbeiterlieder

Das neue politische Lied

Gleichzeitig mit der CD „Arbeiterlieder“ erschien von Kai Degenhardt das Buch „Wessen Morgen ist der Morgen – Arbeiterlieder und Arbeitskämpfe in Deutschland“. Wir bedanken uns beim PapyRossa-Verlag für die freundliche Genehmigung, einen Auszug zu veröffentlichen.

Mit der Gründung des DGB im Jahr 1949 wurde eine Einheitsgewerkschaft geschaffen, die alle Fachgewerkschaften zu einer wirkungsvollen Einheit und Vertretung der gemeinsamen Interessen auf allen Gebieten zusammenfassen sollte – bis auf die der Angestellten bei der ausgegliederten DAG. Aufgrund seiner klaren antikommunistischen Orientierung und seines Selbstverständnisses als Kraft des „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus dockte der DGB gleich wieder an die sozialdemokratische Gewerkschaftstradition der Weimarer Jahre an und vertiefte so die verhängnisvolle Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung erneut. Der Antikommunismus war ohnehin Staatsräson in der Adenauer-BRD: Schon 1956 wurde die KPD wieder verboten. Und die SPD verabschiedete sich mit ihrem Godesberger Programm von 1959 als Arbeiterpartei, wandte sich vom Marxismus ab, setzte voll auf Anpassungskurs und sah sich nunmehr als Vertreterin aller gesellschaftlichen Schichten und offen für unterschiedlichste Weltanschauungen.

Wurden in der DDR von Beginn an Männer und Frauen gleich bezahlt und eine flächendeckende Versorgung mit Kinderkrippenplätzen rasch vorangetrieben, verdienten Frauen in der Bundesrepublik deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen. Das bürgerliche Ideal der Hausfrauenehe mit der Frau als treuer Fürsorgerin bei Vollzeit-Mutterschaft wurde von Podien und Leinwänden gepredigt und in Massenmedien verbreitet. Noch bis 1962 durften Ehefrauen in der BRD allein kein Bankkonto eröffnen, und erst 1969 wurden verheirate Frauen rechtlich voll geschäftsfähig. Dafür zogen ab den 1960ern Telefon, Plattenspieler, Waschmaschine und Fernseher in nahezu jeden Haushalt ein, beinahe jeder Arbeiter konnte sich ein Auto leisten, und das Flugzeug wurde bald, mit der Ausweitung des Tourismus, zum Massenverkehrsmittel.

Es gab zwar, so in München und bei der IG Metall in Düsseldorf, seit den späten 1950ern vereinzelt wieder Gewerkschaftschöre, die auch deutsche und internationale Arbeiterlieder sangen. Die Verbindung zur Tradition der Arbeiterchöre vor 1933 blieb aber gekappt.

Einen wichtigen Durchbruch fürs politische Lied stellten dann die ab 1964 ausgerichteten Open-Air-Festivals „Chanson Folklore International“ auf der genannten Burg Waldeck im Hunsrück dar – dem Heimatplaneten der politischen Liedermacherei im Westen Deutschlands: Degenhardt, Mossmann, Mey, Hüsch, Süverkrüp, Fasia, Wader, Joana – sie alle hatten ihre frühen Auftritte auf der Burg Waldeck. Der Anstoß für die Ausrichtung der Festivals kam vom Folk-Revival in den USA, wo bereits 1959 das erste Newport-Folk-Festival stattgefunden hatte, was bei einem davon enthusiasmierten studentischen Kreis aus der Tradition der Deutschen Jugendbewegung den Wunsch auslöste, so etwas auch hierzulande auf die Beine zu stellen. Auf den Waldeck-Festivals gelang es schließlich, an die von den Nazis missbrauchte, zerschredderte und unsingbar gemachte deutsche Vokalmusik wieder anzuknüpfen, indem mit einer klaren antifaschistischen Haltung und unter ständiger Bezugnahme auf das konkret Gesellschaftliche, das Politische also, ein Rahmen geschaffen wurde, in dem sich eine junge Generation deutscher Songschreiberinnen mit Künstlern aus Frankreich, Griechenland, Jugoslawien, Großbritannien usw. austauschen und gleichzeitig ihre eigenen Songs einem interessierten Publikum präsentieren konnten.

Analog zur Studentenbewegung radikalisierten sich auch die Burg-Waldeck-Szene und die Lieder, die dort gesungen wurden, Jahr für Jahr. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war 1961 wegen Linksabweichung aus der SPD ausgeschlossen worden, und der Parteivorstand hatte einen Unvereinbarkeitsbeschluss erlassen. Seitdem begriff er sich als Teil der internationalen „Neuen Linken“, theoretisch angesiedelt irgendwo zwischen Marxismus, Kritischer Theorie, Existentialismus und Anarchismus, und er wurde zur wichtigen Organisation der Anti-Vietnamkriegs-Bewegung und Zentrum der Außerparlamentarischen Opposition (APO).

Kai Degenhardt
Wessen Morgen ist der Morgen
Arbeiterlied und Arbeitskämpfe in Deutschland

PapyRossa Verlag, 531 Seiten, 16,90 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

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"Das neue politische Lied", UZ vom 15. Dezember 2023



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