In „Der Mensch ist Entwicklung“ wagen sich zwei Rheinländer an die Ordnung der Welt

Das letzte Wort?

Rheinländer sind Optimisten. Damit das auch jeder mitbekommt, reichern sie ihre Sprache gerne mit den dazu passenden Wendungen an. Eine davon: „Et hätt noch emmer joot jejange“ – es ist noch immer gut gegangen. Was für alle Teile einer Menge gilt, gilt den Regeln der Logik folgend auch für die einzelnen Vertreter – und damit auch für Myop und Noem. In Günter Pohls Buch „Der Mensch ist Entwicklung“, dem dritten und letzten Band der Trilogie „Von der Ordnung der Welt“, spazieren die beiden Freunde erneut im Dialog durch die Philosophiegeschichte.

Bewaffnet mit unzähligen Fragen, hilfreichen (und weniger hilfreichen) Ideen aus den vergangenen Jahrhunderten und der notwendigen Prise rheinischer Gelassenheit vertreiben sie die „erkenntnisneutrale Weltbeschauung“, die uns heutige „Philosophen“ in Talkshows und Ratgeberbüchern nahebringen wollen. Myop und Noem geht es um die Annäherung an eine aufklärerische, dem gesellschaftlichen Fortschritt verpflichtete, eingreifende Philosophie.

Also machen sich die beiden an die „Ordnung der Welt“, ein dringend notwendiges Unter fangen für alle, die nach einer besseren Weltordnung streben. Aber auch keine Kleinigkeit. Eben was für Optimisten. Und ihre Zuversicht lassen sich Myop und Noem nicht nehmen, auch wenn sie sich im dritten Band „notgedrungen mit der Endlichkeit des Seins“ befassen müssen, wie es schon im Prolog heißt. Dabei schwingt immer die Frage mit, wie sich das Wissen um den Tod als „nicht abzuschüttelnder Schatten“ und der notwendige Optimismus vereinbaren lassen.

Wenig überraschend und wohltuend zugleich ist, dass sich der Marxist Pohl bei der Beantwortung dieser Frage weder von religiösen Erklärungen noch von existentialistischen Neuanfangsträumereien leiten lässt. Die Kritik an solchen Ideen legt er seinen Protagonisten gekonnt in den Mund. Etwa, wenn Noem ausführen darf, dass „der Allmächtige“ schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts „auf die Verliererstraße geriet“. Nicht nur in diesem Zusammenhang wird erneut der kirchenkritische und scharfzüngige französische Aufklärer Denis Diderot gewürdigt. Die Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Sterblichkeit einerseits und der Orientierung auf eine bessere Zukunft andererseits suchen Myop und Noem stattdessen in den dialektischen Bewegungsgesetzen, im Materialismus, in der Geschichtlichkeit. Damit greift Pohl indirekt auch das noch aus dem zweiten Band bekannte Bild des sozialistischen Kathedralenbaus wieder auf. Den Fortschritt mitzugestalten ist möglich, auch dann, wenn das Endergebnis noch im Werden begriffen ist. Der eigene Beitrag zum gesellschaftlichen Ganzen endet nicht mit dem persönlichen Dasein.

Ausgangspunkt des Dialogs bietet passend dazu ein runder Stein mit dem umlaufenden Marx-Zitat „Der Mensch ist das Subjekt seiner eigenen Entwicklung“. Nach und nach offenbart sich den Lesern, was es damit auf sich hat. Denn nicht nur das Zitat, sondern auch der Stein selbst und vor allem sein Standort halten einige Überraschungen bereit.

Von hier aus durchstreifen Myop und Noem die Jahrhunderte und überwinden Kontinente. Da eine ganze Welt zu ordnen ist, befassen sie sich mit indischer und chinesischer Philosophie, blicken nach Afrika und weit in die Vergangenheit. Auf ihrem Weg passieren sie Gedankengebäude von der griechischen Antike bis zum 21. Jahrhundert – verweilen an manchen und springen zu anderen. Dabei gelingt es ihnen, bemerkenswerte Bezüge zur „heutigen antirationalen, wenn nicht sogar irrationalen Zeit“ herzustellen, in der so manches von vergangenen Generationen verworfene mystische Werk seine fröhliche Wiederentdeckung feiert. Auch der Existentialismus, von Noem als „Projekt der gut situierten Mittelschicht“ umrissen, bekommt sein Fett weg. Er mache es sich „philosophisch auf dem Rücken der Arbeiterklasse bequem, so wie es die freie Marktwirtschaft ökonomisch und das Bürgertum politisch tun“, schreibt Pohl. Klar, dass der Autor auch den drängenden Fragen nach Krieg und Frieden und der sich real vollziehenden Neuordnung der Welt nicht aus dem Weg geht.

Nebenbei, aber keinesfalls nebensächlich, werden zahlreiche politische, ethische und gesellschaftliche Fragen diskutiert. Wie schon die beiden Vorgängerbände bietet „Der Mensch ist Entwicklung“ interessantes Wissen, verständlich komprimiert und unterhaltsam eingeflochten. Wir erfahren, warum Buddha gar nicht „Buddha“ hieß, wie sich die Reaktion hinter wokem „Fortschritt“ versteckt und weshalb das Ende der Europäischen Union schneller kommen könnte als viele denken. Zu Höchstform läuft der Lateinamerika-Spezialist Günter Pohl auf, wenn er die Leser über die Hintergründe der Befreiungstheologie aufklärt, von der Rolle des „Preußischen Heeres“ beim Putsch in Chile berichtet oder am Beispiel Kolumbiens über die Möglichkeit eines gerechten Kriegs nachdenkt.

Die thematischen Sprünge, die im Vergleich zu den Vorgängerwerken dosierter eingesetzt werden, lassen den Gesprächsfaden jedoch keineswegs abreißen. Vielmehr wird in der dialektischen Annäherung deutlich, dass alles mit allem zusammenhängt. Und während diejenigen, die sich heute besonders fortschrittlich geben, aber nur Perspektivlosigkeit predigen, einen „Krieg gegen die Vernunft“ führen, sind Anstöße zum Selberdenken hilfreich, vielleicht sogar notwendig. Denn aller Vernebelung zum Trotz bleibt die Entwicklung nicht stehen, muss und kann der Kathedralenbau vorangetrieben werden. Das wäre ein schönes Ende dieser Besprechung gewesen. Aber lassen wir Noem das letzte Wort, er ist es so gewohnt: „Will man die Ordnung der Welt begreifen, muss man die Änderung der Weltordnung berücksichtigen – also die Fortschritte sehen und in die Strategie einbauen; das ist dialektischer Materialismus.“

Günter Pohl
Der Mensch ist Entwicklung
253 Seiten, Hardcover, Fadenbindung, Leinen, Lesebändchen, 24,– Euro
Erhältlich im UZ-Shop
Weitere Infos zum Buch auf VdOdW.de

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"Das letzte Wort?", UZ vom 6. Dezember 2024



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