Als sie Ende der 1960er Jahre in Berlin in die linke Szene eintauchte, hatte sie bereits ein anderes Leben hinter sich als die meisten ihrer Mitstreiter. 1944 in absoluter Armut geboren, wuchs Inge Viett auf in einer Pflegefamilie im Mief eines kleinen Dorfes in Schleswig-Holstein. Ihre Kindheit war geprägt vom Weiterwirken der faschistischen Ideologie, gemischt mit der „Idiotie des Landlebens“. Der Alltag war durch die Gewalt der Pflegemutter bestimmt, bis Inge den Mut fand, zurückzuschlagen. Damit begann ihr zweites Leben, eine Suche nach dem kleinen Glück, das viele mit dem schnellen Geld verwechseln. Angezogen vom Aufruhr, zog Inge nach Kreuzberg. Mit anderen Erfahrungen als die meisten suchte sie im gesellschaftlichen Aufbruch auch persönliche Orientierung durch die Auseinandersetzung mit den politischen Verhältnissen. Auf einer Vietnam-Demonstration wurde sie zum ersten Mal verhaftet. Diese Erfahrung stärkte ihre Idee von Militanz. Sie kam in Kontakt mit der „Bewegung 2. Juni“ und entschied sich wenig später, in den Untergrund zu gehen. Fast zehn Jahre lebte sie in verschiedenen Ländern und war in unterschiedlichen Organisationen aktiv. Ihre Zweifel an den gewählten Kampfformen stiegen, nachdem sie in Paris einen jungen Polizisten angeschossen hatte. Als sie sich entschied, ihr Leben im Untergrund zu beenden, bat sie die Genossen im sozialistischen Teil Deutschlands um Hilfe. „So rufe ich in Ostberlin schnurstracks die öffentliche Telefonnummer des Ministeriums für Staatssicherheit an und bitte um Vermittlung eines kompetenten Offiziers, der sich in der westdeutschen linken Bewegung auskennt“, schreibt sie in ihrer Autobiografie.
Mit diesem Telefonat begann für Inge der „beste Teil ihres Lebens“. Sie kannte das Leben in den drei Deutschlands nach der Befreiung vom Faschismus. Vor allem war es ihr Leben an der Basis der Gesellschaft der DDR, das zusammentraf mit einer tiefen Kenntnis der Verhältnisse im imperialistischen Teil Deutschlands, der zwar nach außen glänzt, im inneren Kern aber verrottet und abscheulich ist. Sie reflektierte und spürte das Wesen der sozialistischen Gesellschaft, die schon deutliche Zersetzungserscheinungen zeigte, und verwechselte es nicht mit den für Westlinke oft verwirrenden Erscheinungen von Spießigkeit und Mief.
Aus dem Gefängnis schrieb sie im August 1990:
„Tatsächlich aber ist hier in einem mehr als vierzigjährigen, komplizierten, widersprüchlichen Prozess, in einer Art Hass-Liebe zu ihrem Staat, eine Gesellschaft, ein Gemeinwesen entstanden, in dem die Leute fest verankert und frei von jeder Existenzbedrohung waren. Immer wurde mit Inbrunst über alles, was nicht klappt und woran es mangelte, geschimpft und gestöhnt, aber nie fühlten sich die Menschen existentiell verunsichert. Wohnungsnot? Ja, vielleicht als Belastung oder mögliches Konfliktfeld im Elternhaus, aber als Vorstufe zur Obdachlosigkeit? Undenkbar, absurd. Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel? Begriffe, die außerhalb jeder Erfahrungen lagen.“
Im Knast landete Inge, nachdem sie im Laufe der Konterrevolution von einer Nachbarin denunziert worden war. Im Spätsommer 1990 wurde sie von der neuen Führung der DDR rechtswidrig an die BRD ausgeliefert. Sie wurde verurteilt und saß bis Anfang 1997 im Gefängnis.
Ein neues Leben begann mit ihrer Freilassung. Sie veröffentlichte ihre Autobiografie und ein Buch über eine Reise nach Kuba. Sie blieb politisch aktiv, vor allem gegen die Aufrüstungs- und Kriegspolitik. Immer wieder empörten sich die Schreiberlinge des Imperialismus über Inges Handeln – 2011 etwa. Deutschland „verteidigte“ sich am Hindukusch, was zahlreiche afghanische Zivilisten mit ihrem Leben bezahlten. In einem Beitrag für die Rosa-Luxemburg-Konferenz schrieb Inge: „Wenn Deutschland Krieg führt und als Antikriegsaktion Bundeswehr-Ausrüstung abgefackelt wird, dann ist das eine legitime Aktion, wie auch Sabotage im Betrieb an Rüstungsgütern, illegale Streikaktionen, Betriebs- und Hausbesetzungen, militante antifaschistische Aktionen, Gegenwehr bei Polizeiattacken.“ Dafür wurde sie zu einer Geldstrafe wegen „Billigung und Belohnung von Straftaten“ verurteilt.
Am 9. Mai, dem Tag des Sieges, als in Berlin die Fahne der Sowjetunion als angebliches Zeichen für die Billigung eines Angriffskrieges kriminalisiert wurde, starb Inge im Alter von 78 Jahren.
Inge lebte viele Leben. Ihr letztes ist nun endgültig beendet. Die fortschrittliche Bewegung verliert mit ihr eine kämpferische Genossin, die über einen besonderen Erfahrungsschatz im Klassenkampf verfügte. Damit eckte sie auch in linken Kreisen an. Die Herrschenden haben ihr nie verziehen – einer streitbaren, selbstbewussten Frau, die bewaffnet gekämpft und in der DDR mitgestaltet hat. Sie hätte das auch nicht gewollt. Gegenüber dem Klassenfeind blieb sie konsequent. Gegenüber sich selbst und der eigenen Bewegung war sie schonungslos selbstkritisch – eine seltene Verbindung.