Die Giftecke des Schleifers: Roman Ehrlichs Familienroman „Videotime“

Das Leben ist ein Film, der Traum ein Auto

Als Invasoren in Vietnam Gefallene werden als künstlich-intelligente Killermaschinen reanimiert. Eine Gruppe Symphorophiler geilt sich an Verkehrsunfällen und ihren eigenen Versehrtheiten auf. Der direkt mit Maul versehene Wanst eines teuflischen TV-Magnaten tut sich auf und frisst einem seiner Handlanger die Hand ab.

All das ist Filmgut: „Universal Soldier“ (1992), „Crash“ (1996), „Videodrome“ (1983). Roman Ehrlichs Erzähler hat sie und noch viele mehr gesehen, da war er noch Bub in einer bayrischen Kleinstadt. Ein Nest, wo nichts los ist und die vielen für Mercedes Arbeitenden dort kein Begehr haben, außer selbst einmal eine der besternten Karossen zu besitzen. „Wer ein Traumauto hat, ist jemand, der von Autos träumt“, entschlüsselt Lotta die hiesige dauerverunfallende Oberflächlichkeit. Sie ist eine Freundin des Jungen, der „grundsätzlich langsamer war als sie im Denken, im Erkennen der Gesetzmäßigkeiten, die zwischen uns und den Menschen in der Kleinstadt am Werk waren“. Dass den pummeligen Filmfreak die Tochter italienischstämmiger Gastronomen, deren Berufswunsch es ist, Tierärztin zu werden, in ihrem Zimmer nackt mit präpubertären Forscherblicken observiert, ist einer der eigentlich ja wenig erschütternden Eklats im Buch. Dass das von Ehrlich als „Familienroman“ kategorisiert wird, kehrt das Provinzpossierliche als Rahmung noch mehr heraus; denn die Handlung ist so ­schmal und eingängig, sie würde in ein Abendkino im Öffentlich-Rechtlichen passen und so zur geltenden Langeweile beitragen. Die vierköpfige Familie mit dem unehrenhaft entlassenen Bundeswehrschleifer und Justizvollzugsbeamten als Oberhaupt, das seinen sportlich talentierten Sohn – ein Tennis-Ass – bis zum Ermüdungsbruch pusht und das disziplinversessene Negativ seiner im Übergößenladen arbeitenden Frau und dem ähnlich naschsüchtigen Jüngsten, dem Erzähler, hält sich selbst kaum zusammen. Auf Romanlänge trägt die Trennung der Eltern, die Abkehr des Bruders vom Sport und der Wahnsinn, der den Vater ergreift, kaum.

Erträglich ist es in der Sippe selbst auch wenig. Für Erleichterung sorgt das Raubkopieregal des Vaters, der die VHS-Kassetten aus dem titelgebenden Filmverleih im Ort illegal überspielt, archiviert und eine klar kenntlich gemachte, jedoch leicht zugängliche Giftecke mit Filmen eingerichtet hat, die er zu sehen verboten oder noch nicht gesehen und für seine Söhne für geeignet erklärt hat. Die Altersempfehlungen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft sind dabei nachgeordnet, der gelernte Kriegshandwerker hat grundsätzlich nichts gegen Gewaltdarstellungen. Unterminiert der Film jedoch die Staatsapparate, denen er angehörte beziehungsweise angehört, mag das beim Vater mehr Zensurbedürfnis wecken als etwa die Brutalität des Dargestellten. „Natural Born Killers“ (1994) über das Mörderpärchen Mallory und Mickey Knox erwähnt er einfach nie wieder, nachdem ihn seine Kinder bitten, ihn für sie auszuleihen, zu prüfen und bestenfalls freizugeben. „Vielleicht lag es (…) an der Darstellung der Vollzugsbeamten, deren Tölpelhaftigkeit und leichtgängige Überwältigung beim finalen Riot im Gefängnis und dem erfolgreichen Ausbruch von Mickey und Mallory meinen Vater sicher sehr geärgert hat, dass er den Film nicht überspielen und seinen Söhnen zugänglich machen wollte.“

Ehrlich hatte bereits mit „Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens“ (2017) einen Roman über Cineasten geschrieben. Darin formiert ein Horrorfilmregisseur sein Set zur Sekte und führt es in die abgründige Irre. Mit „Videotime“ rückt der Plot weiter nach hinten, Ehrlich wird essayistischer, bleibt in seiner Erzählung dabei – wie bei einem Tiefseetauchgang – aufmerksam, exakt und geduldig.

Dem Ich-Erzähler dient das Filmegucken dabei nicht nur zur Überbrückung der Tristesse. Sie helfen ihm zu verstehen, wenn er mit „Universal Soldier“ die Abrichtung seines Bruders zum Krieger auf dem Court durch den Vater begreift. Oder wie leicht manches in „The Devil in Miss Jones“ (1973) samt der miserablen deutschen Synchronisation mit dem assoziiert werden kann, was er im Haus des Freundes Markus beobachtet, dem devoten Einzelkind eines wohlhabenden Mercedes-Autohaus-Besitzers und einer von der Welt isolierten Hausfrau, die nichtsdestotrotz ihr Äußeres chirurgisch präparieren lässt.

Auserklären lässt sich aber weder das Leben mit dem Film noch der Film mit dem Leben. Die beides verbindende Analyse gerät spätestens bei Gerri in Stolpern, „der sorbische Schmiedehammer“, ein zugezogener Boxer, der für kurze Zeit den Erzähler und andere „junge Jungen“ nachmittags betreut und bei dem sie nach dem Sparring in dessen verrauchter Wohnung Filme wie „Total Recall“ (1990) schauen. Ob Gerri der Verrat Loris (gespielt von Sharon Stone) an ihrem – vermeintlichen – Ehemann Douglas (Arnold Schwarzenegger) in der Verfilmung der Kurzgeschichte „We Can Remember it For You Wholesale“ von Philip K. Dick nun so aufwühlt, weil auch sie ihn verraten habe, bleibt eine Vermutung des hier an Ironie nicht sparenden Erzählers, der „sehr viel später in einem Informationszentrum darüber informiert wurde, dass es in dieser DDR, aus der Gerri stammte, ein klandestines Netz der Überwachung und Bespitzelung einzelner Personen gegeben hat, die noch nicht mal einem bewaffneten Untergrund angehört haben mussten“. Vielleicht, so vermutet der Erzähler später, diesmal restfrei unironisch, das Naheliegende, habe Gerri wahrscheinlich ebenso wenig bewaffnet, aber nicht minder gewaltvoll, die Frau attackiert, wegen der er sich so grämt. „Ein verwirrter Übersprung des Boxers, auf der kein cooler Spruch mehr folgte und der niemals eine ausreichende Rechtfertigung finden würde (…)“ Hier scheiden sich Fiktion und Realität voneinander: Die Wunden, die in Ersterer bewusst gezeichnet werden, geben einen Hinweis darauf, welche man in Zweiterer nicht willkürlich schlagen ­sollte.

Roman Ehrlich
Videotime
Familienroman
Verlag S. Fischer, 368 Seiten, 26 Euro

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"Das Leben ist ein Film, der Traum ein Auto", UZ vom 20. September 2024



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