Der 16. März 1978 war an sich schon kein gewöhnlicher Arbeitstag für uns.1 Im Montecitorio, dem Sitz der Abgeordnetenkammer, war die Debatte über die Amtseinführung der von IKP-Generalsekretär Enrico Berlinguer und dem Vorsitzenden der Democrazia Cristiana (DC), Aldo Moro, gebildeten Regierung angesetzt. Die IKP wollte das Kabinett zunächst nur parlamentarisch unterstützen, hatte aber bereits volles Mitspracherecht in allen Fragen der Regierungspolitik. Der direkte Eintritt war für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen. Die USA sollten sich, wie mir auch Sergio Segre, der Leiter der Abteilung Internationale Beziehungen im Zentralkomitee, gesagt hatte, davon überzeugen, dass es seitens der IKP keine Absichten einer „kommunistischen Machtübernahme“ gebe.
Etwa gegen 9.30 Uhr brachte die Nachrichtenagentur ANSA die ersten Meldungen über die Entführung Moros. Der Konvoi des DC-Führers war auf der Fahrt zum Montecitorio an der im Norden der Stadt liegenden Kreuzung Via Fani-Stresa gestoppt und von einem Kommando der „Brigate Rosse“ überfallen worden. Das fünfköpfige Begleitkommando Moros war niedergeschossen worden. Vier der Polizisten waren sofort tot. Der fünfte starb im Krankenhaus. Der DC-Vorsitzende war in einen Pkw FIAT 130 gestoßen worden. Wie ANSA weiter berichtete, hatten um 10.05 Uhr mehrere Zeitungen eine mit „Brigate Rosse“ unterzeichnete Mitteilung erhalten: „Heute Morgen haben wir den Vorsitzenden der Democrazia Cristiana entführt und seine Eskorte, die ‚Ledernacken’ Cossigas (des Innenministers – der Autor), eliminiert. Ein Kommunique folgt.“
Seit Beginn unserer Arbeit waren wir Zeugen der erbitterten Auseinandersetzung zwischen Faschismus und Antifaschismus in Italien, die nun in der größten Tragödie der Nachkriegsgeschichte Italiens gipfelte. Im Januar 1977 hatte ich in Rom im luxuriösen Midas-Hotel den Parteitag des Movimento Sociale Italiana (MSI) verfolgt, der eine „chilenische Lösung“ für Italien forderte. Das MSI war mit Hilfe der USA bereits im Dezember 1946 als Nachfolgepartei Mussolinis wieder gegründet worden. An die gespenstischen Szenen erinnere ich mich noch heute. In dem düsteren Kongresssaal hatten sich rund 1 200 Faschisten versammelt. Vor dem MSI-Symbol, einem Sarg, aus dem eine Flamme in den Farben der italienischen Trikolore aufstieg, hatten die Führer des MSI mit Giorgio Almirante und Pino Rauti an der Spitze an einem mit schwarzem Tuch überzogenen langen Tisch Platz genommen. Die Flamme sollte Mussolinis emporsteigende Seele symbolisieren, die seine Nachfolger ermutige. Almirante hatte als Staatssekretär des „Duce“ noch kurz vor Kriegsschluss einen Genickschusserlass gegen Partisanen verhängt. Als er sich in wüsten antikommunistischen Ausfällen erging und Aldo Moro als Philokommunisten diffamierte, der das Land den Roten ausliefere, schien in der Tat der Geist Mussolinis über dem Saal zu schweben. Während Almirante Pinochet feierte, brachen die Teilnehmer in frenetischen Beifall aus, sprangen von den Plätzen, rissen den rechten Arm zum Führergruß empor und skandierten „Pinochet, Pinochet“. Der Chef der faschistischen Terrorbanden Pino Rauti, der in der Salò-Republik2 den Schwarzhemden, der „SS“ Mussolinis, angehört hatte, verlangte, die politische und wirtschaftliche Krise „zur Erhebung gegen das Regime“ zu nutzen.
Bereits Ende 1973 und nochmals 1974 hatten wir erlebt, wie Armee- und Geheimdienstkreise zusammen mit der CIA, der NATO und den MSI-Faschisten ein Regime nach „chilenischem Vorbild“ an die Macht putschen wollten. Antifaschistische und demokratische Kräfte hatten die Pläne enthüllt, bevor sie in Gang gesetzt werden konnten.
Gegen die faschistische Gefahr schlug Enrico Berlinguer, seit März 1972 Generalsekretär, Moro einen „Compromesso storico“ vor, die Bildung „einer Regierung der demokratischen Wende“. Nach dem Sturz Salvador Allendes im September 1973 schlussfolgerte er: „Selbst wenn die Linksparteien und Linkskräfte 51 Prozent der Stimmen im Parlament erringen könnten“, wäre es „völlig illusorisch anzunehmen, dass allein diese Tatsache den Fortbestand einer Regierung der Linksparteien und Linkskräfte garantieren würde“. Eine „demokratische Erneuerung“ müsse sich auf eine breite Mehrheit stützen, um das Land vor einem reaktionären Abenteuer, wie es in Chile stattfand, zu schützen.
Die IKP hatte bei den Parlamentswahlen im Juni 1976 34,4 Prozent erreicht und war hinter der DC (38 Prozent) zweitstärkste Partei geworden. In der Abgeordnetenkammer stellte sie den Präsidenten, im Senat den Stellvertreter. In der Hälfte der 21 Regionen (Länder) war sie an den Regierungen beteiligt. In der Partei hatte sich seit Ende der 60er Jahre jedoch auf der politisch-ideologischen Basis des sogenannten Eurokommunismus eine sozialdemokratische Fraktion herausgebildet. Durch den Wahlerfolg gewann sie zunehmenden Einfluss auf den „historischen Kompromiss“. So wurde der Integration der IKP in das bürgerliche Parteiensystem zugestimmt, ein eigener „Weg zum Sozialismus“ verkündet und die kapitalistische Marktwirtschaft anerkannt. Berlinguer erklärte, nicht nur die Bündnisverpflichtungen Italiens zu respektieren, sondern bekundete obendrein, die NATO eigne sich unter bestimmten Voraussetzungen als „Schutzschild“ eines italienischen Weges zum Sozialismus. („Corriere della Sera“, 15. Juni 1976)
Der „Allende Italiens“
Der DC-Vorsitzende Moro war ein Antifaschist und progressiver bürgerlicher Reformer, der mit einer Zusammenarbeit mit Sozialisten und Kommunisten den Antikommunismus zurückwies. In den USA war er erbitterten Angriffen, ja einer regelrechten Mordhetze ausgesetzt. Als er 1974 als Außenminister Staatspräsident Giovanni Leone nach Washington begleitete, wurde ihm offen gedroht, „Italien in ein zweites Chile“ zu verwandeln. Ein hoher Beamter sagte, er werde es „teuer bezahlen“, wenn er seine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht aufgebe. In Anspielung auf den ermordeten John F. Kennedy und dessen Witwe drohte er, dann werde es auch in Italien „eine Jacqueline“ geben. („Osservatore politico“, Rom, 13. September 1975)
Außenminister Henry Kissinger nannte Moro den „Allende Italiens“, der das Land „in kommunistische Abhängigkeit“ steuere, und äußerte, die CIA müsse „Realitäten schaffen“.
Als Moro und Berlinguer ihren „historischen Kompromiss“ verwirklichen wollten, wurden die angedrohten „Realitäten“ mit dem von der CIA und ihrer geheimen NATO-Truppe Gladio geplanten Komplott gegen den DC-Vorsitzenden in die Tat umgesetzt. Als Werkzeug wurden die von Geheimdienstagenten unterwanderten und manipulierten linksradikalen Brigate Rosse benutzt. Ihr Gründer und ursprünglicher Chef, Renato Curcio, der den „Tötungsterror“ ablehnte, wurde 1976 durch CIA-Agenten ausgeschaltet. An die Spitze trat ein Mario Moretti, den Curcio später als Spion entlarvte.3 Sergio Flamigni enthüllte in dem Buch „La tela del ragno. Il delitto Moro“ (Mailand 1993), dass der im Hintergrund agierende CIA-Agent Corrado Simioni der eigentliche Chef der BR war.4
Führungszentrale „P 2“
Als Zentrale des Mordkomplotts fungierte die von der CIA Ende der 60er Jahre in Italien geschaffene Geheimloge „Propaganda due“ („P2“). An ihrer Spitze stand offiziell der Altfaschist Licio Gelli, der an der Seite Francos gegen die Spanische Republik gekämpft und für den Geheimdienst Mussolinis in der Salò-Republik gearbeitet hatte.5 Der „P2“ gehörten 2 500 eingeschriebene Mitglieder aus allen Bereichen der Gesellschaft an. Darunter waren 47 Großindustrielle und 119 Bankiers, 43 Generäle der Geheimdienste, der komplette Generalstab des Heeres und sechs Mitglieder der Regierung. Von der Mafia waren zahlreiche Chefs vertreten, darunter die ganze Führungsspitze der Cosa Nostra.
Die „P 2“ bremste mit 57 Mitgliedern in den Sicherheitsstäben die Fahndung nach dem „Gefängnis“ der Geiselnehmer. Wie die Experten Antonio und Gianni Cipriano in ihrem Buch „Sovranità limitata. Storia dell’ eversione atlantica in Italia“ (Rom 1991) aufdeckten, beobachtete der Geheimdienstoberst Camillo Gugliemi in der Via Fani die Entführung. Er war auf dem NATO-Stützpunkt Capo Marrargiu auf Sardinien Leiter der Ausbildung verdeckter Agenten in den BR. Im Polizeipräsidium verzögerte der diensthabende Kommissar die Fahndung. Der Direktor des römischen Fernsprechamtes unterbrach für eine Stunde die Telefonverbindungen, was das unentdeckte Entkommen der Entführer ermöglichte.
Verfassungstreue Offiziere spielten „La Repubblica“ eine Nachricht zu, dass die Entführung Moros „eine militärische Aktion“ war, ein „Glanzstück an Perfektion“, die nur „von Militärs mit ausgetüftelter Spezialausbildung oder von Zivilisten, die in für Kommandounternehmen spezialisierten Militärstützpunkten einem langen Training unterzogen wurden, durchgeführt werden konnte“. Der Kommandeur der „Gladio“-Division, General Gerardo Serravalle, bestätigte nach der Aufdeckung der NATO-Truppe 1991 in seinem Buch „Gladio“ (Rom 1991) die Angaben. Am Tatort gefundene 39 Patronenhülsen waren mit Speziallack überzogen, mit dem die Munition für „Gladio“-Einheiten präpariert wurde. Sie verschwanden aus dem Innenministerium.
Am 9. Mai wurde Moro umgebracht. Die Leiche wurde im Kofferraum eines roten Renault 4 gefunden. Die Farbe sollte den Standpunkt der BR von Moros „Verrat“ symbolisieren. Der Wagen wurde in der Via Gaetano im Zentrum von Rom abgestellt, fast in gleicher Entfernung vom Sitz des Zentralkomitees des IKP und des Parteivorstandes der DC. Auch das sollte verdeutlichen, dass Moro ein Opfer seiner Zusammenarbeit mit den Kommunisten geworden war.
Laut Obduktionsbericht wurde Moro von neun Kugeln aus einer Maschinenpistole Scorpion und zwei aus einer Colt-Pistole 9 mm getroffen Die beiden Kugeln aus der Pistole waren laut Autopsie der Gnadenschuss.
Nach dem Mord verdichteten sich die Beweise, dass die Geheimdienste mit Gladio das Komplott inszeniert hatten. In der Via Caetano hatte ein Motorradfahrer seit dem frühen Morgen einen Platz freigehalten, in den der Renault einparken konnte. Von der Straße waren die Abgeordnetenkammer, der Senat und der Quirinale, der Amtssitz des Staatspräsidenten, etwa einen Kilometer entfernt. Dieses Viertel wurde also schon für gewöhnlich gut bewacht und war seit dem 16. März von einem dichten Polizeikordon umgeben. Hier sollte der Motorradfahrer sich unbemerkt zwei oder auch drei Stunden in der Nähe seiner Maschine aufgehalten und auf den R 4 gewartet haben? Unbehelligt sollte der als gestohlen gemeldete Renault sein Ziel erreicht und dort noch drei Stunden gestanden haben, ohne Aufsehen zu erregen? Das war unglaubhaft. In Moros Hosenaufschlägen wurde Sand gefunden, der von den Tolfa-Hügeln nördlich von Rom stammte. Dort befand sich ein „Gladio“-Stützpunkt, in dem er sich zumindest zeitweise befand.
Am 22. Oktober 2007 erklärte Giovanni Galloni, zur Zeit der Entführung Moros Vizesekretär der DC, dass „die Vereinigten Staaten wussten, wo Aldo Moro gefangen gehalten wurde“. Er bestätigte, dass fünf in die BR eingeschleuste Agenten „den Hintergrund der Geheimdienstoperation“ gebildet hatten. („Liberazione“, 23. Oktober 2007).
(siehe auch: Gerhard Feldbauer: Agenten, Terror, Staatskomplott. Der Mord an Aldo Moro, die Roten Brigaden und die CIA. Papyrossa, Köln 2000.)
Anmerkungen
1 Meine Frau Irene, die als Redakteurin und Fotoreporterin arbeitete, und ich waren vom Mai 1973 bis April 1979 für die Nachrichtenagentur „ADN“ und die Zeitung „Neues Deutschland“ in Italien.
2 Von Mussolini unter der im Herbst 1943 errichteten Besatzung der Hitlerwehrmacht gebildetes Marionettenregime Repubblica Sociale Italiano (RSI) mit Sitz in Salò am Gardasee.
3 Renato Curcio: Mit offenem Blick. Ein Gespräch zur Geschichte der Roten Brigaden. Berlin 1997.
4 Der Autor war als Vertreter der IKP Mitglied der Moro-Kommission des Parlaments und hat über die Ergebnisse insgesamt sechs Bücher verfasst.
5 Der römische „Europeo“ enthüllte am 15. Oktober 1983, dass der eigentliche Chef der „P 2“ der mehrmalige Premier Giulio Andreotti war. Als dieser 1993 der Komplizenschaft mit der Mafia angeklagt wurde, bestätigten das Aussagen führender Mafiachefs.