Mit „In fernen Gefilden“ erscheint der erste Band der Joanna-Russ-Werkausgabe

Das ist eine andere Geschichte

Dean Wetzel

Die Science Fiction hat ein Problem mit dem Gesellschaftlichen. So urteilt zumindest Joanna Russ 1974 in ihrem auch heute noch äußerst lesenswerten Essay „Das Frauenbild in der Science Fiction“. Sie bemerkt eine merkwürdige Schieflage in der SF-Literatur, die sich wie keine andere mit dem „Was wäre, wenn …“ auseinandersetzt, es dabei jedoch recht eindimensional denkt. Einerseits antizipiert die SF technische Fortschritte von Abertausenden von Jahren, andererseits verbleiben gesellschaftliche Organisationsformen, das Familiäre und insbesondere die Geschlechterrollen merkwürdig gegenwärtig, gar rückwendig. In dieser Hinsicht sieht die in der damaligen, aber auch gegenwärtigen SF-Literatur präsentierte Zukunft, trotz intergalaktischer Reisen, recht trist aus und ist kaum von einer kleinbürgerlichen Vorstadt zu unterscheiden.

Dass es auch anders geht, zeigt uns Joanna Russ im ersten Band ihrer im Carcosa Verlag erscheinenden dreibändigen Werkausgabe. Die feministische Sozialistin Russ erweist sich nicht nur in ihren Essays und Rezensionen als pointierte und messerscharfe Kritikerin – mit Hang zur überspitzten Polemik –, sondern wagt sich in ihren Erzählungen selbst an einen subversiven Gegenentwurf zur omnipräsenten „Mannsbild-Ethik“ der SF. Wodurch sie im Namen der Science Fiction zur radikalen wie auch konstruktiven Dissidentin gegen die Science Fiction wird: sie treibt sie in ihren Erzählungen über ihre damaligen Grenzen hinaus und erweitert sie zu dem, was sie sein sollte.

Im ersten Band der Werkausgabe sind neben Rezensionen und Essays sämtliche „Alyx-Erzählungen“ sowie Russ’ dazugehöriger Debütroman („Picknick auf Paradies“) versammelt. Doch bei Alyx, die scheinbar all diese Geschichten vereint, handelt es sich nicht um eine konsistente, sich über die Geschichten hinweg fortentwickelnde Figur, sondern um einen narrativen Ausgangspunkt, der in der Differenz seine Identität erweist. So erfindet sie Alyx immer wieder neu und erkundet dadurch nicht nur ihre Protagonistin, sondern auch die eigenen erzählerischen Möglichkeiten.

Während die Alyx der ersten beiden Geschichten, die noch weniger der SF als dem Fantasy-Genre zugeordnet werden könnten, als feinsinnige, aber auch schroffe Einbrecherin gegen die patriarchale Erzählung der Ehe aufbegehrt, wird sie in einer späteren Geschichte, in die dann erste SF-Elemente eingewoben werden, zur Auftragsmörderin eines selbsternannten Schöpfers der Welt. Um im Kurzroman „Picknick auf Paradies“ wiederum in neuer Gestalt und in einer neuen Zeit als transtemporale Agentin aufzutreten, um eine Rettungsexpedition von ignoranten Erlebnistouristen anzuführen. Letztendlich verschwindet sie in den beiden letzte Geschichten – wahrscheinlich ihrem Berufszweig geschuldet – gänzlich im eigenen Schatten und wird nicht einmal mehr namentlich genannt.

Schon in ihrem Frühwerk beweist Russ ihr außergewöhnliches Gespür für Sprach- und Erzählformen. Sie eignet sich geläufige Themen und Formen der Fantasy- und SF-Literatur an, bedient sich aber nicht unkritisch ihrer Schemata. Keine Geschichte gleicht in ihrer Anlage der anderen. Jede besitzt eine eigene Textur, eine eigene Logik. Russ erschafft aus der Sprache heraus und in der Sprache selbst Welten, die erkennen lassen, dass „Welt“ nicht einfach ist, sondern gemacht wird. Und immer wieder spielt sie dabei virtuos mit der reflexiven Verquickung der Erzählung mit dem Erzählen dieser Erzählung. Womit Russ beweist, dass spekulative Literatur – die sich nicht nur im Scientismus verliert – weit über das rein Deskriptive hinausreicht und wirklich „spekulativ“ sein kann.

Dem Corcosa Verlag, der in seiner noch kurzen Verlagsgeschichte bereits mit der Herausgabe und Neuübersetzung von schmählich auf dem deutschen Buchmarkt vermissten Science-Fiction-Klassikern auftrumpft, ist für diese Werkausgabe zu danken. Und selbst wenn man meint, mit SF-Literatur nichts anfangen zu können – das mag wohl vorkommen –, sollte man sich den Gefallen tun und Joanna Russ lesen. Denn Dank der Übersetzung von Hannes Riffel, Erik Simon und Thomas Ziegler gibt es nun keine Entschuldigung mehr, es nicht zu tun.

Joanna Russ
In fernen Gefilden – Werke 1
Carcosa Verlag, 393 Seiten, 26 Euro

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