Welche Interessen stehen eigentlich hinter dem radikalen Brexit-Kurs des britischen Premierministers Boris Johnson? Der Mann ist schließlich von einer Mehrheit der konservativen Parteimitglieder zu ihrem Anführer gewählt und damit, wie es die Gebräuche im Königreich vorsehen, zum Regierungschef gemacht worden. Die konservative Tory-Partei ist die bei weitem älteste politische Partei im Land (und auch in Europa). Sie hat sich über einige Jahrhunderte hinweg als die Interessenvertretung der herrschenden Klasse, zunächst des Adels plus des Finanzkapitals und nach dem Verschwinden der liberalen Partei als die der gesamten Kapitalistenklasse verstanden und bewährt. Dass diese Kapitalistenklasse und ihre Partei in der Brexit-Frage gespalten ist, war während der kurzen Regierungszeit von Theresa May für jedermann sichtbar. Man sollte das nicht nur als Rat- und Hilflosigkeit angesichts der schwierigen Alternative abtun, die da lautet: Entweder in der EU ökonomisch und politisch die dritte Geige spielen oder, ähnlich wie die rohstoffreichen Commonwealth-Länder Australien und Kanada, als Vasallenstaat den USA ökonomisch und politisch zuzuarbeiten.
Die Interessen des riesigen und meist sehr profitablen Finanzsektors der britischen Wirtschaft wurden in der Öffentlichkeit und in dem von May und der Rest-EU ausgehandelten Trennungsvertrag kaum erwähnt. Der Vertrag sah vor, dass die gegenseitige Zollfreiheit sowie die Freiheit des Kapitalverkehrs erhalten werden sollte. Die Freiheit, Bankgeschäfte zu betreiben, und die gegenseitige Anerkennung der Bankenaufsicht der EU-Staaten untereinander, blieb jedoch außen vor. Die Banken, die bisher von London aus die Finanzierung im großen Stil auf dem gesamten Kontinent betrieben, müssen sowohl gemäß dem von May ausgehandelten weichen Brexit als auch gemäß einem harten Brexit dieses Geschäft von EU-Staaten aus machen. Paris, Frankfurt, Dublin und Amsterdam registrieren seit zwei Jahren entsprechend muntere Neugründungen von Ablegern internationaler Finanzhäuser. Warum nimmt die Londoner City, warum nehmen beide, May und Johnson, den Exodus des Bankgeschäfts hin?
Vielleicht hilft ein Blick zurück auf die Zeit, als eine Truppe Marktradikaler den Kurs zuerst der Tory-Partei und, ab 1979 mit dem Beginn der Regierungszeit Maggie Thatchers, den des ganzen Landes bestimmten. Vernichtung der Gewerkschaften und sozialer Institutionen, Privatisierung, Zerschlagung der Kommunen, rücksichtsloses Schleifen alter Industrien und Betriebe, all das gehörte zum Programm, sowie auf der anderen Seite die Aussicht, besser die Garantie hoher Profite für hereinkommendes genauso wie für altes heimisches Kapital. Auch die City wurde einer Rosskur unterzogen. Das Finanzkapital aus aller Welt durfte die traditionsreichen Brokerhäuser übernehmen. Der Coup gelang. Die Deindustrialisierung Britanniens beschleunigte sich, das Land verarmte weiter, aber die City blühte auf. Sie ist heute (neben New York) der erste Finanzplatz für den globalen Kapitalismus. Das Geschäft in der EU ist dabei nicht der Haupt-, sondern nur der Nebenerwerbszweig.
Ein Großteil der rechten britischen Presse unterstützt mit Getöse Johnsons Position. Auffällig ist auch, dass die bei Banken am meisten genutzte Finanzdatenagentur des New Yorker Milliardärs Bloomberg seit drei Jahren jeden Schritt zum Brexit wohlwollend begutachtet. Das geschieht natürlich aus US-Sicht. Winston Churchills Nationalismus der „English Speaking Peoples“ kommt nicht nur bei den Geheimdiensten der „Five Eyes“ gut an. Ein Finanzplatz vor der Küste des EU-Kontinents ist den US-Banken lieber als einer, der sich in der EU befindet und auch formal dort reguliert wird. Die ziemlich konkret wirkenden Fantasien der Truppe um Johnson stellen sich für London und von London ausgehend eine neue Stufe des Finanzkapitalismus vor. Dort siedeln wie bisher die weltweit wichtigsten Banken unter wohlwollender Aufsicht der US-Regierung, aber ohne deren lästige Zugriffsmöglichkeiten. Die Bankgeschäfte für die Konzerne aus der EU können dort en gros auch künftig gut abgewickelt werden. Der Rest des Landes wird zur Parklandschaft, seine Bevölkerung kann die erforderlichen Hilfsdienste erbringen.
Noch ein Nachsatz: All heißt noch lange nicht, dass die lohnabhängigen gewöhnlichen Briten in der EU eine bessere Zukunft vor sich hätten.