Es gibt Momente im Alltag, in denen das Alltägliche nur durch das Wunderbare erklärbar scheint. Momente, in denen der Alltag sich so widersprüchlich darstellt, dass es auf der Hand liegt: hier muss Hexerei am Werk sein. So grenzt es nicht an Verrücktheit, sondern erscheint absolut logisch, wenn beispielsweise eine Wissenschaftlerin zwischen Arbeits- und Haushaltsstress ihren Arbeitsweg über ein unsichtbares Seil abzukürzen sucht.
Da Hexenwerk die alltäglichen Widersprüche aber nicht aufheben kann, muss die Wissenschaftlerin – die einer Erzählung Irmtraud Morgners entsprungen ist – letztendlich von ihrem unsichtbaren Seil stürzen. Das Unglück wirft die Frage auf, ob sich nicht eine einfachere Lösung finden lässt. Für Morgner war klar, die Lösung ist längst gefunden. Sie lautet: „Proletarische Solidarität auch im Privatleben.“ In ihr verbinden sich Klassenkampf und Feminismus.
Irmtraud Morgner wurde am 22. August 1933 in Chemnitz als Tochter eines Lokführers geboren. Kein nebensächliches Detail, denn wie Morgner in einem Interview erzählte, will schließlich jeder Sohn eines Lokführers später einmal Lokführer werden. Als Tochter ziemte sich das allerdings nicht, was ihr aber egal war, sie wünschte es sich trotzdem. In diesem Wunsch sah sie selbst den notwendigen Kern an Widerspenstigkeit, den „ein konventionell erzogener weiblicher Mensch braucht, um eine Chance zu nutzen, sich gegen die Strömung der Sitten irgendwann freizuschwimmen“. Hinzu kam ein Koffer, der 1945, sie war zwölf Jahre alt, während Räumungsarbeiten den Weg zu ihr fand. Vollgepackt mit Reclamheften, wurde dieser Koffer für Morgner – die „in einem Haushalt ohne Bücher aufgewachsen“ war – zum Erweckungserlebnis.
„Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können.“
Irmtraud Morgner
Bei Goethe, seitdem im Geiste ihr ständiger Begleiter, las sie am Küchentisch im Faust: „Es möchte kein Hund so länger leben,/drum hab ich mich der Magie ergeben.“ Bis sich jedoch das Magische als literarische Form in ihrem Werk niederschlug, dauerte es noch einige Jahre. In ihrer ersten Erzählung („Das Signal steht auf Fahrt“, 1959) und ihrem ersten Roman („Ein Haus am Rande der Stadt“, 1962) – die sie nach eigenem Verständnis noch nicht schreiben musste – bleibt sie den Konventionen des sozialistischen Realismus verhaftet. Der erste Roman, in dem sie ihren eigenen Stil fand – den sie also schreiben musste – und in dem Morgners magisches Spiel zwischen Sozialistischem Realismus, 1001 Nacht und Baron von Münchhausen zum Vorschein tritt, trägt den Titel „Rumba auf einen Herbst“ und sollte 1965 erscheinen, wurde aber nicht zur Veröffentlichung freigegeben. Weswegen erst mit „Hochzeit in Konstantinopel“ Morgners eigensinniger Stil 1968 seinen Weg in die Öffentlichkeit fand.
In der historischen Figur der Beatriz de Dia, die im späten 12. Jahrhundert lebte und eine der wenigen weiblichen Trobadoren ihrer Zeit war, findet Morgner dann ihren eigenen Faust und ihr zentrales Thema: „Der Eintritt der Frau in die Historie.“
Nach einem 800-jährigen Schlaf erwacht die titelgebende Trobadora („Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“, 1974) im Jahr 1968. Ihre Hoffnung, nun eine Welt vorzufinden, in der die Emanzipation der Frau endgültig erkämpft wurde, wird jedoch augenblicklich enttäuscht. In Paris erfährt sie aber von einem „Ort des Wunderbaren“, in dem die „Gleichberechtigung von Mann und Frau auf allen Gebieten des Staats-, Wirtschafts- und Kulturlebens“ umgesetzt wurde.
Als Beatriz, die dieses „gelobte Land“ kennenlernen möchte, dem Grenzpolizisten als Reisegrund: „Ansiedelung im Paradies“ nennt, erwidert dieser mit Argwohn, dass die Deutsche Demokratische Republik doch kein Paradies sei, „sondern ein sozialistischer Staat“. Dem Wunsch wird trotzdem stattgegeben und Beatriz betritt das sozialistische Land. Doch auch hier wird sie mit einer unvollendeten Emanzipation konfrontiert, da die Sitten dem Recht noch hinterherhinken.
Für Morgner selbst handelte es sich bei diesem Widerspruch um einen ihrer produktivsten. Denn als Marxistin hatte sie sich für die Widersprüche, die der Sozialismus hervorbrachte, nie geschämt. Sie wusste, dass „der Widerspruch die Triebkraft der Entwicklung ist“. Um diese herauszuarbeiten, komponiert sie ihre Romane in der Art einer „mise en abyme“: eines Bildes im Bild, einer in der Erzählung gespiegelten Erzählung. Sie verschachtelt Alltag und Irrfahrt, Sozialismus und Hexensabbat. Jeden Roman entwirft sie aus verschiedensten Erzählungen, Legenden, Liedern, Zeitungsartikeln und Zitaten, die um ein einendes Thema kreisen und dieses in Form und Inhalt variieren. Ihre Romane errichten so eine außergewöhnlich reflexive Architektur.
In „Amanda. Ein Hexenroman“ (1983), Fortsetzung der „Trobadora“ und zweiter Teil der Salman-Trilogie, schreibt Beatriz – die im ersten Teil beim Fensterputzen verunglückt und im zweiten Teil als verstummte Sirene wiederaufersteht – nun die Geschichte ihrer Spielfrau Laura nieder. Es ist aber auch die Geschichte Amandas, Anführerin des Hexenaufstands. Diese besitzt nicht nur eine verblüffende Ähnlichkeit zu Laura, sondern ist ihre abgespaltene Hälfte. Neben der Zerteilung und der Frage nach einer zukünftigen Vereinigung tritt der Kampf als erzählerisches Motiv hervor. Dieser Kampf um eine bessere Welt ist für Morgner aber nur unter einer Mannigfaltigkeit der Kämpfe zu denken. So erzählt sie nicht nur vom Arbeits- und Klassenkampf, sondern auch vom Geschlechter-, Alltags-, Haushalts-, Beziehungs-, Überlebens-, und insbesondere vom Friedens- und Umweltkampf.
Den letzten Teil der Trilogie konnte Morgner, die am 6. Mai 1990 viel zu früh starb, nie fertigstellen. Postum erscheint „Das heroische Testament“ 1998, dank der Arbeit von Rudolf Bussmann, als ein Roman in Fragmenten. Dabei bietet der Roman weniger einen Blick auf den großen Abschluss der Reihe als einen besonderen Einblick in die Werkstatt Irmtraud Morgners. In dieser ist zu erkennen, dass Morgner es mit ihrem Lehrer Ernst Bloch hielt und Kunst als „ein Laboratorium und ebenso ein Fest ausgeführter Möglichkeiten“ betrachtete. Ein Fest, auf das uns ihre Bücher führen und auf dem wir sie selbst auch heute noch antreffen können.