Die Linkspartei vor ihrem Parteitag

Das Grummeln der Agonie

Diether Dehm

Während die USA gerade Europa in einen Atomkrieg drängen, bekriegt sich eine „Friedenspartei“ über schlüpfrige Tweets. Dem Juni-Parteitag der Linkspartei steht ein Showdown bevor: Bei der Wahl des neuen Vorsitzenden tritt gegen einen NATO-Gegner ein NATO-affiner Minister an. Dessen Regierungschef Bodo Ramelow hatte, bevor die Linkspartei bei den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen abgesoffen war, die Lieferung von schweren Waffen und einen schnellen EU-Beitritt der Ukraine gefordert.

Wenn eine Partei unten untergeht, braucht es lange, bis sie es oben merkt. Rituelle Parteitagsabläufe umschläfern die Sinne in wohliger Gewohnheit. Wenn also „Die Linke“ Ende Juni ihren Vorstand neu wählt, wird sich in der Halle alles so anfühlen wie immer. Beim letzten Bundesparteitag hatte der Chef des Parteiapparats, Jörg Schindler, „die zwei tollen Frauen“ Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler als Vorsitzende durchgedrückt. In den Auszählungspausen gab es lauwarmes Anti-Sahra-Kalauerkabarett. Der Drill, das In-sich-Hineingrollen, der müde, inszenierte Parteitagsapplaus – all das dürfte sich nun rächen.

Kurs auf Regierungspartei

Der glücklose Parteivorsitzende Bernd Riexinger begann mit seiner Dresdner Parteitagsrede 2013 die grummelnde Anhängerschaft auf die Partei- und Staatsführung einzuschwören, auf Euro- und das EZB-Gelddrucken. Er sprach „im Namen der Arbeiterklasse“ und gegen Oskar Lafontaines EU-Kritik. Der AfD schenkte er damit ein zusätzliches Alleinstellungsmerkmal, das diese zum weiteren Aufstieg nutzte.

In der Folge orientierte die Linkspartei auf medienverordnete Bessermenschen mit Regenbogenschals, auf zivilgesellschaftlich inszeniertes Welcome für sämtliche Refugees (inklusive Grauer Wölfe!), auf Gender-Sprachakrobatik, auf Klimadiktate und Spahn/Lauterbachsche Corona-Auflagen. Und nun, im Krieg um die Tränen, soll die Parteibasis Empathie heucheln für Selenski und dessen Ukrainer – aber gegen die Russisch Sprechenden. Während der Deutschlandtrend gerade gekippt ist und zwei Drittel der Menschen hierzulande Angst davor haben, mehr in den Ukrainekrieg hineingezogen zu werden.

Noch aus meiner Zeit in der SPD weiß ich: Wo eine Oppositionspartei allzu oft Gesslerhüte grüßen muss und kraftvolle Widerworte ausgetrieben bekommt, wächst subkutanes Grummeln. Und so wird sich dieser Linke-Bundesparteitag zwar so anfühlen wie alle bisherigen – aber der ritualisierte Betriebsfrieden wird danach kaum zwei Stunden in den Herzen halten. Zwangsversöhnt werden die Delegierten zu den Parkplätzen traben, aber in der Praxis nicht mehr zusammenfinden. Die Optionen für einen neuen Burgfrieden in der Linkspartei zwischen den (grob gerastert) drei Richtungen sind aus- und überreizt.

Gespaltene Partei

Da ist die Richtung 1: Das sind die „populären Antiimperialisten“, die sich schon lange nach einem Neuanfang sehnen mit engem Fokus auf werktätige Breite. Mit Reallohnsteigerungen, Abrüstung und mehr Sozialstaat für die materiell Schwächeren, für jene „schweigende Mehrheit“, von der sie aber wissen: Atomisierte Sorge um die eigene Existenz lehnt sich – auch parlamentarisch – erst auf, wenn jemand mit Mut machender Ausstrahlung vorangeht. So klammern sich sogenannte kleine Leute zunehmend an Sahra Wagenknecht. Auch deren Charisma ist nicht Ergebnis einer exotischen Geheimformel, sondern harter Arbeit und Genickschläge. Die guten Zahlen des linken Präsidentschaftskandidaten in Frankreich zeigen, dass auch in Deutschland weit mehr drin sein dürfte. Wie Wagenknecht und Oskar Lafontaine gehört Jean-Luc Mélenchon zu jenen bedeutenderen Menschen, von denen Max Weber einst schrieb, man wisse bei denen zwar nie genau, was sie demnächst täten, aber immer, was sie nie tun würden – und dazu zählt jedes „Ja“ zur NATO.

Richtung 2: Das sind die „Apparatschiks“ – überwiegend aus der alten PDS. Die finden Ausstrahlung zwar ganz hilfreich, aber nicht so entscheidend. Sie setzen lieber auf den Mix aus einer Mindestmenge an Parteifahnen am 1. Mai, ein paar Landesministern und soliden Parlamentsvertretungen von Dorf bis Bund. Sie halten sich für eine Karawane, die immer weiterzieht, solange sie irgendwo mitregieren. Mit dem charmanten Parlierer Gregor Gysi arbeiten sie am liebsten zusammen. Aber notfalls auch mit der beliebten Wagenknecht. Würde die bloß nicht immer so „brutal“ auf grünen Essentials oder Selbstgerechten herumhämmern: auf Corona-Diktaten, Gendervorschriften, Migrantinnenkult, Klimaeinsparungen, NATO-Revival und Arbeiterfeindlichkeiten. Diese Richtung 2 hat einen Vorteil: Sie besteht aus Kompromissprofis, aus Meistern im „ein Biss und ein bisschen von allem“. Das macht sie zwar zum klassischen Beiwerk: ein bisschen Frieden, ein kleiner Biss Gewerkschaft, ein bisschen Indentitäres und ein bisschen Impfpflicht. Mit nur solchen Leuten hat noch nie eine Partei überlebt – aber ohne sie auch nicht.

Richtung 3, die Identitären (vormals Antideutsche), ist ein Sammelsurium von Ex-Piraten und Grünen, Friday-Futuristinnen und coronakonformen Kremlhassern; oft umgarnt von Mainstream-Schreibern des „politischen Berlin“, von Lobbyisten der „westlichen Wertegemeinschaft“. Regime Change ja – aber mit linksgetönten Gründen! Die Identitären berauschte stets die Aussicht, Wagenknecht loszuwerden. Bernd Riexinger und sein späterer Stellvertreter Jan van Aken verkündeten 2018 in jeweils kleinen Kreisen in Madrid und Hamburg, ohne sie würden die Prozentzahlen der Partei ungebremst nach oben gehen. Mit Grünerwerden als die Grünen wähnten sie sich auf Regierungsbänken, mit „Rot-Rot-Grün“ hatten sie ihre Zauberformel. Bundesgeschäftsführer Schindler war ihr innerparteilicher Stellschraubenmeister für den Apparat und das Machen und die Einbindung von Delegierten, aber auch für den Fatalismus auf den Parteitagen, die er stets als „neuen Aufbruch“ verkaufte. Er hat die vernichtendste Bilanz, die je ein deutscher Wahlkampfführer aufwies. Er sorgte dafür, dass sich die Linke von der Grundfarbe Rot für Wahlkämpfe verabschiedete, die dann von der SPD aufgenommen und zum Wahlschlager gemacht werden konnte. Jeder andere in jeder anderen Partei hätte nach dem Desaster bei der Bundestagswahl 2021 den Hut nehmen müssen. Aber Schindler durfte noch die einstige DDR-Wirtschaftsministerin Christa Luft und den Ehrenvorsitzenden Hans Modrow in die Wüste schicken und der identitären Richtung 3 zu lukrativen Jobs an den Geldquellen in Parteiapparat und „Rosa-Luxemburg-Stiftung“ verhelfen. Dafür ließ er sich von dort mit handverlesenen Delegierten versorgen.

Gelenkte Debatten

Spätestens mit den katastrophalen Zahlen für Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen hätten die Identitären Hennig-Wellsow beim Rückzug folgen müssen. Aber dann kam der „Sexskandal“ – und die Identitären gerieten in einen wahren Omnipotenzrausch beim Kolonialisieren von fremder Leute Leid. Ausgangspunkt für ihr fröhliches Hauen und Stechen war die vier Jahre zurückliegende Beschwerdenachricht vom Handy einer jungen Frau. Stolz verkündete der „Spiegel“: „Auslöser dafür war ein Enthüllungsbericht des Spiegel vom 17. April.“

Auch Hennig-Wellsow benannte in ihrem Rücktrittsschreiben nicht Wahlniederlagen oder ihr NATO-Kuscheln, sondern den Umgang mit „sexualisierter Gewalt“ als zentrales Problem. Womit endlich auch die Bundestagsfraktion ihr Fett abbekommen sollte. Der einst für den Charme eines Sparkassenfilialleiters belächelte Dietmar Bartsch musste nun als Oberhaupt einer Sexsekte herhalten: „Peep Peep Peep – Dietmar hat euch lieb“, höhnte es auf Twitter.

Eine Abgeordnete beklagte ihr Fraktionsmartyrium unter Bartsch seit fünf Jahren. So habe einst ein anderer Abgeordneter ihr einmal etwas vom Tisch Heruntergefallenes aufgehoben und versichert, ihr dabei nicht unter den Rock geschaut zu haben. Seit 2017 hatte die Abgeordnete schwer daran getragen. Zwei Jahre danach war sie dann auf einer Demo für Julian Assange mit einem Schild aufgetaucht, auf dem sie dessen Auslieferung an Schweden gefordert hatte. In Schweden nämlich wurde der Whistleblower der Vergewaltigung beschuldigt, weil dort Beischlaf ohne Kondom als „Vergewaltigung“ ausgelegt werden kann.

Personalpolitik

Wer im hessischen Sexgemetzel die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung „Im Zweifel für den Beschuldigten“ ins Feld führte und Dietmar Bartsch oder Janine Wissler vor dem „Spiegel“ in Schutz nahm, wurde an den virtuellen Pranger gestellt – zumal das Grundgesetz ohnehin „patriarchal“ sei. Der „Spiegel“ legte gar die Forderung nahe, dass Wissler ihrem damaligen Freund und Mitarbeiter sofort hätte kündigen müssen. Solche Rechtsverdrehung dürfte „Arbeitgeber“ aphrodisieren: Um jemanden zu entlassen, können sie künftig dessen Liebesleben und Freizeit ausspähen.

Der IG-Metaller Klaus Ernst muss sich am 28. April zuerst nur wie ein einsamer Zwischenrufer in der plenaren Wüste vorgekommen sein, als er CDU-Chef Merz anging, brandaktuell auch hierzulande einen Atomkrieg billigend in Kauf zu nehmen. Prompt wurde der linke Parteigründer Ernst auf Facebook erotischer Verfehlungen „überführt“. Auch ein jüngstes Porträt des Frieden-mit-Russland-Kanzlers Willy Brandt im ZDF hatte dessen Liebesskandale ins Zentrum gerückt. Wes Ungeistes Kind der Sexkrieg in der Friedenspartei ist, zeigte „Spiegel“-Kronzeugin Sarah Dubiel von „solid“, als sie jüngst in der „Hamburger Morgenpost“ den Berliner Anti-NATO-Kongress vom 15. Mai als „die Hölle“ geißelte. Der alte Hippiespruch „Make love – not war“ bekommt gerade einen eigenwilligen Beigeschmack.

„Gewisse Sattelköpfe“, schrieb Bertolt Brecht in seiner „Billigung der Welt“ einst über die „Spindoctors im tiefen Staat“, seien „auf dem Sprung, der Menschheit jetzt die Gurgel durchzuschneiden“. Dies setzt aber gerade in Deutschland das vollständige Auslöschen aller Kräfte voraus, die für Abrüstung und Aussöhnung mit Russland stehen. Zusätzlich haben die Spindoctors einen Albtraum: Wagenknecht könnte, trotz ihrer negativen Erfahrungen mit dem Projekt „Aufstehn“, etwas Neues gründen! Prozente und MitstreiterInnen dafür gäbe es zuhauf. Dass die Identitären der Richtung 3 dies auch wollen, bereitet nun aber der Richtung 2, den Kompromissprofis, erhebliches Kopfzerbrechen. Und sie strengen sich an, dem Wagenknecht-Flügel wenigstens ein paar Plätzchen im Parteivorstand zu überlassen. Als Parteivorsitzenden brachte jetzt Wagenknecht selbst Sören Pellmann ins Spiel. Der hatte mit einem vorbildlichen Wahlkampf, in den er Wagenknecht einbezog, überraschend seinen Wahlkreis direkt gewonnen. Und weil mit drei Direktwahlkreisen der Fraktionsstatus auch bei 4,9 Prozent gewahrt blieb, gilt Pellmann als Parteiretter. Kaum war der benannt, erschien die BND-Hauspostille, der „Spiegel“, mit einer Story über Pellmanns geheime Geld- und Stasiquellen – nebenbei bemerkt: Zum Zeitpunkt des Untergangs der DDR war Pellmann zwölf Jahre alt.

Gegen Pellmann will nun in den Fußstapfen der zurückgetretenen Hennig-Wellsow der Thüringer Staatskanzlei-Professor Benjamin-Immanuel Hoff zum Vorsitz. Der zitiert gerne Rosa Luxemburgs „Freiheit des Andersdenkenden“ – bis die Andersdenkenden endlich auch anders denken, nämlich so wie er. Und wie das geht, erklärte er gerade in erfreulicher Offenheit:

„Die osteuropäischen Länder wurden ja nicht in die NATO gezwungen, sondern auch linke Parteien in Osteuropa wollen lieber in der NATO leben als unter der permanenten Gefahr eines großrussischen Imperialismus.“

Trotz aller Emsigkeit des Parteiapparats im Schindlerschen Karl-Liebknecht-Amt, trotz „Sexkrieg in der Friedenspartei“ und ähnlichen Skandalisierungen durch „Spiegel“, „taz“ und andere „Qualitätsmedien“ wird Hoff mit seinem Frontalangriff auf das linke Parteiprogramm chancenlos bleiben. Zumal sein von jedem werktätigen Haushalt abgehobener Habitus irrlichtert wie Mondgestein. Also dürfte es zwar an der linken Spitze auf das Duo Wissler/Pellmann hinauslaufen – aber mit einem toxischen Deal: Im Geschäftsführenden Vorstand werden sie zahlenmäßig eingemauert von den Richtungen 2 und 3. Und das wäre nur „Agonie reloaded“. Dann würde der „Spiegel“ wieder siegen und „die Hoffnung Wagenknecht“ versiegen. Die schweigenden werktätigen Bevölkerungsmehrheiten würden weiter dem Grummeln im Nichtwählerbecken überlassen – oder den Rechten: Wo es nach dem Abschiffen der AfD in Schleswig-Holstein hinter den Kulissen gerade heftig kracht zwischen Pro-NATO-Atlantikern und Vertretern von „Frieden mit Russland“. Mit einem von anpassungswütigen Identitären eingemauerten Vorsitzenden Pellmann wäre zwar Wagenknecht eingebunden, aber nur in die Tristesse. Die einst von Lafontaine gegründete große linke Hoffnung würde nur noch zu einem wabernden Lauern auf handwerkliche Fehltritte der Ampel, die dann – bitte, bitte – aus 4,9 vielleicht doch noch einmal 5,1 Prozent machen könnten.

Ein Mut machender Aufbruch für Sozialstaat und Abrüstung geht anders.

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"Das Grummeln der Agonie", UZ vom 20. Mai 2022



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