Das „große Entgegenkommen“ täuscht

„Wir geben nicht auf – wir haben es satt“. Das stand am vergangenen Samstag auf einem Schild bei der Gewerkschaftsdemo in Paris gegen die Rentenreform.

Am gleichen Tag startete der rechtskonservative Regierungschef Edouard Philippe ein neues Manöver, um mit einem angeblich großen „Zugeständnis“ die Gewerkschaftsfront zu spalten und der seit dem 5. Dezember anhaltenden Massenbewegung ein Ende zu machen.

Am Montag absolvierten die streikenden Eisenbahnerinnen und Eisenbahner und die Beschäftigten der Pariser Verkehrsbetriebe den 40. Streiktag in Folge. Die SNCF-Direktion spricht zwar von einer sichtlichen „Verbesserung“ der Verkehrssituation (angeblich 80 % der TGV-Schnellzügen und 70 % der Regionalzüge im Betrieb), muss aber zugeben, dass der Verkehr nach wie vor „gestört“ bleibt, besonders im Großraum Paris.

Am Donnerstag und Samstag letzter Woche (9. und 11.1.) versammelten sich erneut hunderttausende Französinnen und Franzosen zu Demonstrationen und Kundgebungen der Gewerkschaften. Laut Angaben der CGT waren es am Donnerstag 1,7 Millionen Beteiligte in rund 220 Orten, am Samstag, nur zwei Tage später, erneut 500 000 bei 163 Kundgebungen. Das waren die landesweiten „berufsübergreifenden gewerkschaftlichen Aktionstage“ Nr. 4 und Nr. 5. Gleichzeitig verlängerten die französischen Anwälte und Anwältinnen ihren Streik, der die französische Justiz lahmlegt, um eine weitere Woche. In Le Havre organisierten die Docker eine Aktion „Toter Hafen“ mit Blockade jeglicher Ein- und Ausfuhr von Waren. Alle acht französischen Raffinerien wurden durch Streiks der Beschäftigten und zeitweilige Blockade der Zufahrtsstraßen gelähmt. Eine soziale Massenbewegung von „historischem Ausmaß“, wie es sie auch in Frankreich seit dem Mai 1968 nicht mehr gegeben hatte.

In dieser Situation wollte Premierminister Philippe am 11. Januar mit einer angeblich weitgehenden „Konzession“ einen großen Coup landen. Er sei bereit, auf die vorgesehene Einführung des Renteneintrittsalters von 64 Jahren für den Bezug einer Vollrente zu verzichten, hieß es.

Bei genauerem Hinsehen ergab sich allerdings, dass die Einführung dieses „âge d’équilibre“ („Gleichgewichtsalter“, auch „âge pivot“ genannt) keineswegs wirklich aufgegeben wurde. Vielmehr sollte es für die Zeit ab 2027 ausdrücklich im Gesetzentwurf weiter festgeschrieben bleiben. Nur für die Übergangszeit von 2022 bis 2027 wollte der Premier auf die stufenweise Einführung „temporär“ verzichten. Und das war an die Bedingung geknüpft, dass die „Sozialpartner“ auf einer „Finanzierungskonferenz“ bis Ende April eine andere Regelung vereinbaren, wie das „finanzielle Gleichgewicht“ zwischen Einnahmen und Ausgaben bei der künftigen Rentenversicherung gesichert wird. Sollte es dabei zu keiner Einigung kommen, behielt sich die Regierung vor, das ursprüngliche „Gleichgewichts-Alter“ ab 64 per Verordnung wieder in das Gesetz einzufügen. Ausdrücklich wurde dabei festgehalten, dass die „Ausgleichsregelung“ nicht mit einer Erhöhung der „Arbeitskosten“ verbunden sein dürfe. Das heißt, sie muss ohne eine eventuelle Erhöhung der Rentenbeiträge für die Unternehmen und ohne die Heranziehung von Kapitaleinkünften (Dividenden usw.) zur Finanzierung der Rentenkassen erfolgen, wie die Unternehmer forderten.

Das „große Entgegenkommen“ erwies sich also als ein bloßes Täuschungsmanöver, nur darauf berechnet, die „reformistischen“ Gewerkschaften, vor allem CFDT und UNSA, zum Ausscheiden aus der Bewegung zu bringen. Die Führungen dieser Gewerkschaften begrüßten denn auch das „Entgegenkommen“. Aber schon die Basisorganisation der UNSA bei den Pariser Verkehrsbetrieben ließ sich damit nicht täuschen und beschloss unbekümmert von der Haltung ihrer Führung die Fortsetzung des Streiks.

Die Front der kampfbereiten Gewerkschaften CGT, Force Ouvrière, Solidaires, FSU, CFE-CGC sowie die mit ihnen verbundenen Schüler- und Studentenverbände riefen zur Fortsetzung und Ausweitung der Protestbewegung auf. Zunächst standen neue lokale Aktionen in verschiedener Form in den Tagen vom 14. bis 16. Januar auf der Tagesordnung. Der 16. Januar war als sechster landesweiter branchen- und organisationsübergreifender gewerkschaftlicher Aktionstag angelegt.
Doch nun soll der Gesetzentwurf bereits am 24. Januar im Ministerrat verabschiedet und danach ins Parlament eingebracht werden. Dort sollen die Beratungen ungeachtet der fehlenden Zustimmung der Öffentlichkeit Mitte Februar beginnen, damit das Vorhaben noch vor der Sommerpause endgültig durchgezogen werden kann.

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"Das „große Entgegenkommen“ täuscht", UZ vom 17. Januar 2020



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