Aus:
Domenico Losurdo, Die Linke, China und der Imperialismus,
aus der Reihe
„Flugschriften“ der „Marxistischen Blätter“, Neue Impulse Verlag, 2000.
Als eine offenkundige Lüge entlarvte sich in diesem Fall die Ideologie, die den kolonialen Expansionismus begleitete, der ja offiziell im Namen der Verbreitung von Aufklärung und Zivilisation betrieben wurde. Denn China, bemerkte Goethe in einem Gespräch mit Eckermann am 31. Januar 1827 – kannte bereits eine blühende Literatur, „als unsere Vorfahren noch in den Wäldern lebten“. Dieses Land wurde von Leibniz, von Voltaire und anderen Schriftstellern der Aufklärung wegen seines laizistischen Geistes bewundert: Wo gab es dort die Religionskriege, die Europa in Blut getränkt hatten? Und in Europa spielten das Geburtsprivileg und die Übermacht des Erbadels eine weit größere Rolle als im Land des Konfuzianismus, wo die höchsten Ämter der Verwaltung oft mittels öffentlicher Ausschreibung vergeben wurden.
Was die Wirtschaft angeht, ist ein Briefwechsel, der sich Ende des 18. Jahrhunderts abspielte, aufschlussreicher als jede Abhandlung. England war damals interessiert an Seide, Porzellan, Arzneimitteln und Tee aus China und wollte diese Waren im Austausch gegen im eigenen Land produzierte Wollkleidung beziehen. Hier die Antwort des Kaisers von China an König George III.von 1793: „Uns mangelt es an nichts (…) und deshalb haben wir keinerlei Bedarf an Manufakturerzeugnissen aus Ihrem Land.“ England war dadurch gezwungen, in Silber zu bezahlen, was zu einem ständigen und wachsenden Aderlass an seinen Reserven führte. Bis den englischen Kaufleuten und Politikern eine geniale Idee kam: nämlich das Defizit durch den – China aufgezwungenen – Import von Opium aus Indien auszugleichen … (Wolf 1990, 360–66). Der Widerstand des Volks und der Regierenden Chinas wurde einige Dezennien später mit Waffengewalt gebrochen.
Die Tragödie konnte beginnen. Die Geldströme (und der Aderlass) kehrten ihre Richtung um. Zusammen mit dem Opium brachen die englischen Truppen (und die indischen Kolonialtruppen Ihrer britischen Majestät) über das Land herein: „Chinesische Frauen werden belästigt und vergewaltigt. Die Gräber werden im Namen der wissenschaftlichen Neugier geschändet“ (Spence 1998, 53). Ein Volk von uralter Kultur wird systematisch vergewaltigt, geplündert, erniedrigt. Die Bevölkerung und das Land werden nach und nach zerstückelt von der Meute der Kolonialisten- und Imperialistenhunde, die immer zahlreicher und immer gieriger werden: Großbritannien schließen sich, in grausamer wechselseitiger Konkurrenz, Frankreich und Russland an, Portugal, Japan, die Vereinigten Staaten, Deutschland, Italien. Keiner will bei diesem Gelage fehlen, das sich fabelhaft anlässt. China wird nach und nach amputiert um Hongkong, Macao, weite Landstriche in Mittelasien, Taiwan; auch Tibet ist in großer Gefahr… Die territoriale Zerstückelung geht Hand in Hand mit dem Raub und der Zerstörung des künstlerischen Erbes sowie der Erzwingung riesiger Vergütungen zugunsten der Aggressoren. All dem wird ein Schein von Legalität verliehen mittels „ungleicher Verträge“, die mit Waffengewalt durchgesetzt werden: es triumphieren die
Kanonenbootpolitik und das Gesetz des Stärkeren …
Hin und wieder überwinden die Großmächte sogar eine Zeitlang ihre Rivalität, um den chinesischen Barbaren, die der imperialistischen Aggression und Herrschaft mit wachsender Abneigung begegnen, eine Lektion zu erteilen. Das geschieht 1900, als Großbritannien, Frankreich, die Vereinigten Staaten, Japan, Russland, Deutschland und Italien eine barbarische Strafexpedition durchführen, um den Boxeraufstand niederzuwerfen.
Wie zu Recht festgestellt wurde, ist dies eine Geschichtsperiode, in der „China gekreuzigt“ wird: „Je näher das Ende des 19. Jahrhunderts rückt, scheint China das Opfer eines Schicksals zu werden, gegen das kein Kampf mehr möglich ist. Es ist eine allgemeine Verschwörung der Menschen und der Elemente. Das China der Jahre 1850–1950, der schrecklichsten Aufstände der Geschichte, das Ziel fremder Kanonen, der Schauplatz von Invasionen und Bürgerkriegen, ist auch ein Land großer Naturkatastrophen. Es gab ohne Zweifel noch nie in der Weltgeschichte eine höhere Zahl von Opfern.“
Die allgemeine drastische Senkung des Lebensstandards, der Zerfall des Staats- und Regierungsapparats zusammen mit dessen Unfähigkeit, der Korruption und wachsender Unterwerfung und Abhängigkeit vom Ausland, all dies verschlimmert noch die Folgen von Überschwemmungen und Hungersnöten: Beispielsweise beläuft sich die Zahl der Toten auf „fast drei Millionen allein in der Provinz Shenxi im Jahre 1928“ (Gernet 1978, 565 ff.).
Wenige Jahre später beginnt die japanische Invasion. Die Plünderung und die „Vergewaltigung Nankings“ 1937 ist das blutigste Einzelereignis des Zweiten Weltkriegs; es gab mehr Tote als in Dresden, Hiroshima oder Nagasaki. Ein „vergessener Holocaust“. In den Gebieten des hartnäckigsten Widerstands greifen die Invasoren zur Politik der „drei Alle“: „Alles plündern, alle töten, alles niederbrennen.“
Liberale Kultur und die Feier der überlegenen „europäischen Rasse“
Zur „Kreuzigung“ Chinas haben die Liberalen der Zeit ihren redlichen Beitrag geleistet. John Stuart Mill zögerte nicht, den Opiumkrieg als einen selbstlosen Kreuzzug für die Freiheit zu rechtfertigen oder zu feiern, für die „Freiheit des (chinesischen) Käufers“ noch mehr als für die „des (englischen) Produzenten oder Verkäufers“. „Ein großes Ereignis“ ist dieser schändliche Krieg auch für Tocqueville; er ist „die letzte Etappe in einer langen Reihe von Ereignissen gleicher Art, die schrittweise die europäische Rasse außerhalb ihrer Grenzen treiben und nach und nach all die anderen Rassen deren Herrschaft oder deren Einfluss unterwerfen (…); es ist die Versklavung von vier Erdteilen zugunsten des fünften.“
So wurde mit der großen Kultur der Aufklärung gebrochen, die auf China verwiesen hatte, um den Eurozentrismus in Frage zu stellen und einen Außenpunkt zu gewinnen, von dem aus ein kritischer Blick auf Europa möglich sein sollte. Dieser geniale und großzügige Versuch wurde jetzt zu einer schrecklichen Anklage gegen die Aufklärer, Alles scheint der überlegenen „europäischen Rasse“ erlaubt, die in diesen Jahren und Jahrzehnten sich zum Schaden Chinas unermesslich bereicherte, indem sie dessen versklavte oder halbversklavte Arbeitskraft ausnutzte.
Und so tritt, um die ökonomische Entwicklung des Westens voran zu bringen, an die Stelle des Handels mit Schwarzen der Handel mit Gelben. Man versteht jetzt, weshalb die Chinesen immer wieder mit den Schwarzen verglichen wurden, die einen wie die anderen wurden zu Arbeitswerkzeugen im Dienst der weißen Herrenrasse gemacht. Dieses Motiv findet sich bei so unterschiedlichen Schriftstellern wie Nietzsche und Renan. Letzterer, der sich einen „Liberalen“ nennt, drückt sich besonders deutlich aus: die „Erobererrasse“, die „edle“ europäische „Rasse der Herren und Soldaten“, ist dazu aufgerufen, für die härtesten Arbeiten und die „Zuchthäuser“ die „Erdrasse“ der Schwarzen oder die „Arbeiterrasse (die chinesische Rasse)“ zu nutzen, die von „Natur“ her „mit einer wunderbaren Fingerfertigkeit (begabt ist) und der so gut wie alles Ehrgefühl abgeht“. Und so führen zum Beispiel die amerikanischen Gesellschaften den Bau der Eisenbahnlinie in unwegsamem Gelände, die die Eroberung des Fernen Westens festigen soll, mittels des Imports von 10 000 Kulis aus China durch. Und wie die Schwarzen werden auch die Chinesen, denen es trotz allem gelingt, ihre Lebensbedingungen zu verbessern, in den USA das Ziel von Rassenhass und schrecklichen Pogromen.