Da Vincis „Mona Lisa“ drückt eine neue Technik der Malerei aus – und ein dialektisches Verständnis der Welt.
Es ist kein großes Bild: 77 mal 53 Zentimeter, Ölfarbe auf einer Platte aus Pappelholz. Leonardo ist vor allem für seine Malerei bekannt, besonders für seine „Mona Lisa“ – oder, auf Italienisch, „La Gioconda“ („Die Heitere), die er wohl zwischen 1503 und 1506 malte.
Schon mit seinem Porträt der Ginevra de‘ Benci hatte er Mitte der 1470er Jahre mit dem traditionellen Muster der Frauenporträts in Italien gebrochen: Die Porträtierte ist nicht im Profil, wie damals üblich, sondern wie ein Mann in Dreiviertelpose gemalt. Sie ist kompetent, intelligent und im Freien. Das gilt auch für La Gioconda. Vergleicht man jedoch die Gesichter der beiden Frauen, so zeigt sich, dass Leonardo, als er die Mona Lisa malte, ein viel besseres Verständnis von Anatomie, den unter der Haut liegenden Knochen- und Muskelstrukturen hatte.
La Gioconda ist eine Frau der Mittelklasse. Säulen an den Rändern des Gemäldes und eine Balustrade deuten auf eine aristokratische Landvilla, ebenso wie der erhöhte Balkon. Dieses Haus hat einen Blick auf eine Landschaft mit Wasser und Bergen, die durch aufragende Wolken betont wird. Eine Straße zur Linken des Betrachters und eine Brücke über einen Fluss zur Rechten, die den Straßenverlauf spiegelt, implizieren menschliche Arbeit, obwohl keine weiteren Personen zu sehen sind. Man begreift indirekt, dass die Landschaft der Familie dieser Frau gehört.
Das Bild unterscheidet sich von den beiden anderen berühmten Frauenporträts Leonardos, dem der Ginevra de’ Benci und dem der Cecilia Gallerani („Die Dame mit dem Hermelin“): Er wendet seine Sfumato-Technik an – auf deutsch etwa: verraucht, verschwommen – und macht die Gesichtskonturen damit weicher. Eine der Innovationen der Renaissance war die Ölfarbe, die Leonardo anstelle der dahin bevorzugten Eitempera nutzte. Ölfarbe trocknet langsamer, das ermöglichte ihm, harte Linien zu verwischen und eine Unschärfe zu erzeugen, der in den Augen des Betrachters Bewegung suggeriert. Ebenso verschwommen ist die Landschaft. Leonardo entwickelte diese Technik durch genaue Beobachtung und wissenschaftliche Überlegungen darüber, wie das Auge Dinge wahrnimmt. Er zog die Filtration von Sonnenlicht in Betracht sowie den Einfluss von Luftpartikeln in der Reflexion von Licht. Sfumato ermöglichte es Leonardo, ein sehr lebendiges, scheinbar bewegtes Bild eines Lebewesens – Mensch, Pflanze oder Tier – zu erzeugen. Seine Behandlung von atmosphärischem Licht erzeugt den Eindruck einer unendlichen Veränderlichkeit. Bei der Mona Lisa ist diese Bewegung und Energie besonders in den Gesichtsmuskeln zu spüren. Und hier liegt das Geheimnis ihres Lächelns: Sfumato, leichte Unschärfe, erzeugt eine Unsicherheit um ihren Mund und ihre Lippen und damit eine subtile Unklarheit, ob sie gerade anfängt oder aufhört zu lächeln. Leonardos Technik fängt auf zutiefst wissenschaftliche Weise ein, wie das Auge die lebendige Natur in ständiger Bewegung und Veränderung wahrnimmt, die Dialektik der Natur.
Sfumato beherrscht das gesamte Gemälde. Nicht nur kann die Mona Lisa lebendig sein, sondern auch die Natur um sie herum. Ihr Porträt und die Landschaft im Hintergrund sind keine „fotografischen“ Abbildungen. Sie werden so dargestellt, wie das menschliche Auge sie wahrnimmt – eine Person und die Natur aus der Sicht eines Menschen. Das ist ein wirklich revolutionärer Standpunkt. Das Gemälde bringt alles zum Ausdruck, was Leonardo über das Leben wusste – als Ingenieur, Wissenschaftler und Künstler. Das Gemälde ist Ausdruck von Leonardos dialektischem Verständnis der Natur und der Menschheit und verkörpert somit vollendet den Geist der Hochrenaissance.