Sparen an Lebensmitteln, Bildung und Gesundheit: Armut in Russland wächst

Das Elend und das Öl

Von Willi Gerns

Die anhaltende Wirtschaftskrise in Russland schlägt immer spürbarer auf die Lebensbedingungen der Arbeiter und Angestellten, der Arbeitslosen und Unterstützungsempfänger, der Rentnerinnen und Rentner, der Bauern und kleinen Gewerbetreibenden durch. Das geht aus einer Ende 2015 vom russischen Meinungsforschungsinstitut „Lewada-Zentrum“ durchgeführten repräsentativen Umfrage hervor.

Nach den vom Institut veröffentlichten Daten gaben nur 15 Prozent der Befragten an, nichts von der Krise zu spüren. 80 Prozent erklärten dagegen, von deren Folgen betroffen zu sein. Dabei ist der Prozentsatz derjenigen, die gezwungen sind, bei Ernährung, Erholung und dem Kauf länger nutzbarer Waren Einschränkungen vorzunehmen, merklich gestiegen. Bei Lebensmitteln und anderen täglichen Ausgaben müssen 58 Prozent der Bevölkerung sparen. Vor einem Jahr waren es erst 37 Prozent. Mehr als ein Drittel kürzten ihre Ausgaben für Unterhaltung und Erholung oder mussten ganz darauf verzichten. 13 Prozent schränkten ihre Ausgaben für Bildung und Gesundheit ein oder verzichteten ganz darauf, was im Vergleich zum Vorjahr eine Zunahme um 9 Prozent bedeutet.

Die genannten Einschränkungen sind vorrangig eine Folge der sinkenden Realeinkommen. So erklärte der Minister für Arbeit kürzlich, dass für das Jahr 2015 im Vergleich zum Vorjahr mit einem Absinken des Reallohns um 9 Prozent zu rechnen sei, und die russische Statistikbehörde Rosstat gibt allein für den Monat Dezember ein Sinken der Realeinkünfte von 5 Prozent an.

All das bedeutet, dass sich in Russland gegenwärtig für wachsende Teile der Bevölkerung ein Prozess der Verarmung und teilweise sogar der Verelendung vollzieht, wie russische Kommentatoren der Umfrage des Lewada-Zentrums bemerken.

Die Hauptursache liegt unbestreitbar in der beinahe totalen wirtschaftlichen Abhängigkeit Russlands vom Preis für das Erdöl und andere Energieträger auf dem Weltmarkt. Und die Hauptverantwortung dafür, dass sich an dieser für das Land äußerst prekären Situation trotz ständiger Warnungen der russischen Kommunisten und vieler Ökonomen in den mehr als eineinhalb Jahrzehnten, in der Wladimir Putin inzwischen über eine fast unbeschränkte Machtfülle verfügt, nichts geändert hat, liegt in erster Linie bei ihm.

Dabei wurde nicht nur vor den Folgen der Abhängigkeit vom Preis der Energieträger gewarnt. Zugleich wurden diverse Programme vorgeschlagen, um das Land aus den Fängen dieser Abhängigkeit zu lösen. Ihr Kern besteht im Übergang zu einer aktiven Industriepolitik des Staates durch staatliche Investitionen, günstige Kredite und Steuerprivilegien zur Erneuerung vorhandener Kapazitäten und den Aufbau neuer Kapazitäten in den modernen industriellen Schlüsselbereichen. Zugleich wurden Vorschläge zur Förderung wissenschaftlicher Forschungen, sowie der Schulen und Hochschulen gemacht und andere begleitende Maßnahmen für eine moderne Industriepolitik vorgeschlagen.

Die notwendigen finanziellen Mittel waren mit den sprudelnden Einnahmen des Staatshaushalts aus dem Öl- und Gasexport weitgehend vorhanden, wie der Ökonom und Zukunftsforscher Maxim Kalaschnikow im Gespräch mit der Netzzeitung „Swobodnaja Pressa“ betont. Damals habe „das Schicksal selbst Russland angesichts ausreichend hoher Preise für Energieträger Budgeteinnahmen geschenkt, die weit über die geplanten Einnahmen hinausgingen und für eine neue Industriepolitik zur Verfügung gestanden“ hätten.

Stattdessen – so Kalaschnikow weiter – hätten die Herrschenden dagegen die Öl-Einnahmen „verzehrt“ und statt Werkbänke und Technologien z. B. jährlich für 70 Milliarden Rubel ausländische Autos eingekauft.

Hinzuzufügen ist noch, dass es möglich gewesen wäre, zusätzliche Ressourcen durch eine entsprechende Steuerpolitik zu Lasten der Oligarchen sowie Maßnahmen zur Verhinderung oder wenigstens zur Einschränkung der Kapitalflucht der Oligarchen und anderer Superreicher in den Westen zu mobilisieren. All das stand und steht jedoch für die mit den Oligarchen verbandelte politische Elite in Russland nicht auf der Tagesordnung.

Die möglichen politischen Folgen der verfehlten Wirtschaftspolitik sind noch nicht abzusehen. Noch fährt Präsident Putin bei Umfragen märchenhafte Popularitätswerte ein. Doch ist es selbst in Russland fraglich, ob patriotische Losungen auf Dauer Ersatz für ausreichende Nahrung, Kleidung, Obdach und andere Bedürfnisse bieten können.

Gleichzeitig nutzt die prowestliche Opposition in Russland die wirtschaftliche Misere für ihre Zwecke aus – genauso Washington, Berlin und Brüssel, zum Beispiel mit der jüngsten Verlängerung der antirussischen EU-Wirtschaftssanktionen.

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"Das Elend und das Öl", UZ vom 8. Januar 2016



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