„Die Lage ist ernst, aber der Ausblick ist dramatisch.“ Mit diesen Worten fasste Thomas Eiskirch (SPD), Oberbürgermeister von Bochum und Vorsitzender des Städtetags NRW, die jüngste Erhebung zur finanziellen Situation der Kommunen in Nordrhein-Westfalen in einem Interview mit WDR 5 zusammen. Die kommunalen Spitzenverbände hatten bei allen 396 Kommunen des Landes nachgefragt. Die Ergebnisse sprechen für sich: 348 Städte und Gemeinden bewerten ihre derzeitige Lage als „schlecht“ oder „sehr schlecht“. Nur fünf Kommunen sehen sich in einer „eher guten“ Situation. „Sehr gut“ taucht gar nicht auf. Der Ausblick für die kommenden fünf Jahre wird in 217 Kämmereien als „sehr schlecht“ und in 155 als „schlecht“ eingeschätzt.
„Investitionen in Schulen, Kitas oder Verkehr, die wir so dringend brauchen, sind kaum noch möglich. Die Auswirkungen spüren die Menschen vor Ort, wenn an allem geknapst werden muss“, kommentierten Eiskirch und Christoph Landscheidt (SPD), Präsident des Städte- und Gemeindebundes NRW, in einer gemeinsamen Presseerklärung. Kaum eine Stadt oder Gemeinde werde in den nächsten fünf Jahren noch einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen können. Verantwortlich sei eine chronische Unterfinanzierung der Gemeinden. Seit dem Jahr 2009 habe sich die Summe der kommunalen Sozialausgaben verdoppelt. Zudem würden noch Mehrbelastungen durch die Corona-Politik und den Ukraine-Krieg abgestottert: 6,5 Milliarden Euro, „die die kommunalen Handlungsspielräume auf Jahrzehnte einschränken“. Hinzu kommen Altschulden und explodierende Zinsausgaben, die im kommenden Jahr mehr als eine Milliarde Euro verschlingen werden.
So angebracht der alarmierende Ton auch ist: Überraschend kommt das alles nicht. Die Gemeinden werden seit vielen Jahren in den Ruin getrieben. Auch die vermeintlich „besseren“ Zeiten vor Corona gingen mit einer massiven Unterfinanzierung und regelmäßigen Kürzungswellen bei Sozialem, Kultur oder Jugend einher. Ausgeglichene Haushalte waren, dort wo sie existierten, auf dem Rücken der Arbeiterklasse erkauft worden.
Im September des vergangenen Jahres wandten sich dann 355 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister an den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU). Sie warnten vor einer „beispiellosen Anhäufung von Belastungen“, die den „Fortbestand der kommunalen Selbstverwaltung gefährdet“. Im schönsten Beamtendeutsch klang das dann so: „Das krisengetriebene Zusammenwirken von stagnierenden Steuereinnahmen und Zuweisungskürzungen, stark steigenden Kosten für Sachaufwendungen und Personal sowie stetig neuen Erwartungen an Leistungen der Daseinsvorsorge überfordert die kreisangehörigen Selbstverwaltungsträger.“ Als besonders belastend wurden die stark ansteigenden Preise, die mangelnden Ressourcen zur Unterbringung von Geflüchteten und der unzureichend finanzierte Rechtsanspruch auf die Ganztagsbetreuung an Grundschulen genannt. Die Bürgermeister beklagten sich außerdem über die unklare Zukunft des Deutschlandtickets, die Pflicht zur Erstellung von Wärmeplänen, die mangelnde Beteiligung von Bund und Land bei der Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung und steigende Umlagen an Kreise und Landschaftsverbände. Der gegenwärtige Kurs werde zu Grundsteuererhöhungen führen, die „Bürgerinnen und Bürgern schlichtweg weder vermittelbar noch zumutbar“ seien. In den Gemeinderäten könne dann „nicht mehr gestaltet, sondern nur über Zumutungen entschieden werden“.
Die Bürgermeister forderten den Ministerpräsidenten auf, alle fiskalischen und haushaltsrechtlichen Ressourcen auszuschöpfen, um „den Kommunen wieder Handlungsspielräume zu verschaffen, welche die Bezeichnung „kommunale Selbstverwaltung“ auch verdienen“. Auf Gesetze, die die Kommunen weiter belasten, sollte verzichtet werden. Landesprogramme zur Schaffung von Wohnraum, mehr Geld für die Gemeinden und klare Regeln für die Ganztagsschulen sollten Abhilfe schaffen – und zwar „umgehend“, wie das Schreiben betonte. Selbstverständlich geschah jedoch nichts, weder „umgehend“ noch später. Inzwischen sind die Kürzungspotentiale vielerorts erschöpft. Nur noch 18 Kommunen in NRW werden einen ausgeglichenen Haushaltsplan aufstellen können. Eiskirch warnte im Gespräch mit WDR 5 vor einem „Flächenbrand“.
Absehbar ist, dass diese Warnung ebenso wie die vorangegangenen Appelle verpuffen wird. Die schwarz-grüne Landesregierung hat im Juni zwar einen Vorschlag zur Bekämpfung der Altschuldenproblematik unterbreitet, doch solche Ideen hat es in den vergangenen Jahren häufiger gegeben. Heraus kam dabei nichts. Diesmal will das Land insgesamt 7,5 Milliarden Euro über 30 Jahre zur Verfügung stellen, vorausgesetzt, der Bund steuere ebenso viel bei. Dieser Idee stehen Kassenkredite in Höhe von mehr als 20 Milliarden Euro gegenüber.
Dem Grundproblem, der strukturellen Unterfinanzierung und Überforderung der Gemeinden, kann ein solches Programm nicht abhelfen – selbst, wenn es umgesetzt würde. Denn dafür bräuchte es einen grundlegenden politischen Wandel. Zunächst müsste erkannt werden, dass die aktuelle Lage der Kommunen auch ein Ausdruck des gegenwärtigen Kriegskurses ist. Der Zerfall der öffentlichen Daseinsvorsorge ist eine Kehrseite von Aufrüstung und Waffenlieferungen. Hinzu kommt der seit Jahren vorangetriebene Abbau der kommunalen Selbstverwaltung. Denn was im Schreiben der Bürgermeister wie ein Betriebsunfall wirkt, ist Ausdruck einer langanhaltenden Tendenz.
Die kommunale Selbstverwaltung, wie sie etwa in der preußischen Städteordnung von 1808 zum Ausdruck kam, diente einst der Verständigung eines aufstrebenden Bürgertums. In den Räten konnten Grundbesitzer und Bourgeoisie ihre örtlichen Interessen regeln. In Zeiten des Monopolkapitalismus wird sie mehr und mehr zum Störfaktor – haben doch international agierende Konzerne nur wenig Interesse, sich kleinteilig mit Stadtverwaltungen und lokalen Genehmigungsverfahren für ihre Projekte auseinanderzusetzen.
Insofern bleibt der Zwang zum dialektischen Denken und zum Abschied von Illusionen: Eine Selbstverwaltung von unten – die oft zitierte „Herzkammer der Demokratie“ – ist im bürgerlichen Staat nicht vorgesehen. Die Reste der von der ökonomischen und politischen Entwicklung überholten Selbstverwaltung des Grundgesetzes zu verteidigen ist dennoch Teil einer antimonopolistischen und friedensorientierten Politik.