Als vor etwa zwei Wochen der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog starb, ließ es sich kein Autor in seinem Nachruf nehmen, auf Herzogs berühmt-berüchtigte „Ruckrede“ von 1997 hinzuweisen. Mit dieser Rede hatte Herzog die zweifelhafte Ehre, den wenige Jahre später unter Gerhard Schröder durchgesetzten Frontalangriff gegen die arbeitende Klasse mit Namen Agenda 2010 rhetorisch vorzubereiten.
Der Linkspartei-Vorsitzende Bernd Riexinger kritisierte diese Rede wenigstens ein bisschen: Sie habe „nicht in die richtige Richtung gewiesen“. So unkonkret Riexingers Kritik in dieser Frage blieb, so konkret lobte er Herzog in einer anderen: Die Einführung des 27. Januars als offiziellen „Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“. Riexinger schätzte ein: „Roman Herzog hat sich mit der Einführung des ‚Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus’, des Tages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee, darum verdient gemacht, dass diese Verbrechen in der kollektiven Erinnerung bleiben.“ Roman Herzog – der neoliberale Vorreiter, aber dafür immerhin Antifa?
Kein Zweifel: Den 27. Januar als offiziellen Gedenktag einzuführen, an dem die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz befreite, war und ist notwendig. Doch dafür wäre es auch notwendig gewesen, diese Tatsache auch so zu benennen. Das Gegenteil war der Fall: Weder in seiner Proklamation zur Einführung des Gedenktages noch in seiner dazugehörigen Rede vom 19. Januar 1996 nannte Herzog die Rote Armee mit einer Silbe. Was Herzog also zunächst leistete, war die Befreier vom deutschen Faschismus aus der kollektiven Erinnerung zu streichen.
die Ideologie für die imperialistische Offensive.“
Überhaupt ist die Rede Herzogs jedem zu empfehlen, der auf die Idee kommt, der offizielle Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus sei aus einer antifaschistischen Haltung heraus entstanden. So liest sich Herzogs Rede zu Beginn durchaus vielversprechend bezüglich der Zielsetzung, wenn er sagt: „Wir wollen nicht unser Entsetzen konservieren. Wir wollen Lehren ziehen, die auch künftigen Generationen Orientierung sind.“ Doch welche Lehren zog Herzog in seiner Rede? Zum Beispiel diese: „Wir Deutschen haben mehr als andere lernen müssen, dass das absolut Unfassbare trotz allem geschehen kann.“
Mit diesem Ausspruch markierte der Bundespräsident einen neuen amtlichen Tiefpunkt in der historischen Einordnung des deutschen Faschismus durch deutsche Würdenträger. Aber genau damit zeigte er auch, wie sehr er den Ideologiebedarf des deutschen Imperialismus in der Offensive verinnerlicht hatte. Denn das sinnentleerte Begaffen des ‚absolut Unfassbaren“ war neben der Ruck-Rede die zweite ideologische Vorlage für die rot-grüne Bundesregierung: Mit diesem westdeutschen „Staatsantifaschismus“ (im Gegensatz zum staatlichen Antifaschismus der DDR) war es möglich, mit dem Schlachtruf „Nie wieder Auschwitz!“ gegen Jugoslawien in den Krieg zu ziehen.
Der deutsche Imperialismus brauchte weniger als 20 Jahre, um mit Joachim Gauck einen Bundespräsidenten ins Amt zu hieven, der die ideologischen Verrenkungen seines Amtsvorgängers nicht mehr nötig hat. Ihm reicht schon der Hinweis auf einen rassistischen, homophoben US-Präsidenten, um die weitere Aufrüstung der Bundeswehr und EU einzufordern. Die Frage für Antifaschisten muss also lauten: Wie verhindern wir diese Kriegsmobilisierung im Deckmantel des Antifaschismus?