Zehn Jahre ist es her, dass der US-Whistleblower Edward Snowden die globale Überwachung durch die USA aufgedeckt und die Supermacht vorgeführt hat: Anfang Juni 2013 begannen Medien international über die Dokumente zu berichten, die der damals 29-jährige IT-Mitarbeiter der US-Geheimdienste NSA und CIA an seinem Arbeitsplatz auf Hawaii heruntergeladen hatte. Die Weltöffentlichkeit erfuhr von „PRISM“, „XKeyscore“ und „Tempora“ – perfide Computerprogramme der US-Regierung, mit denen die eigene Bevölkerung wie auch Menschen in anderen Ländern nahezu uneingeschränkt und ohne rechtliche Grundlage ausspioniert werden, wobei praktisch die gesamte Kommunikation automatisch gespeichert und permanent ausgewertet wird.
Snowdens Enthüllungen wirken bis heute fort. Anfang vergangener Woche war weltweite Nachricht, dass der Facebook-Konzern Meta eine Rekordstrafe in Höhe von 1,2 Milliarden Euro zahlen muss, weil er Daten europäischer Nutzer an Server in den USA überspielt hat, auf die die dortigen Geheimdienste Zugriff haben. Dem Beschluss zufolge muss das Unternehmen von Mark Zuckerberg binnen fünf Monaten jede weitere Übermittlung personenbezogener Daten an die USA stoppen, da Meta weiterhin US-amerikanischen Überwachungsgesetzen unterliegt. Der Konzern will gegen die Entscheidung der EU vorgehen, auch wenn er das Geld aus der Portokasse bezahlen könnte – allein im ersten Quartal machte er bei einem Umsatz von über 28 Milliarden US-Dollar mehr als sieben Milliarden US-Dollar Gewinn. Der Börsenkurs von Meta reagierte erst gar nicht auf die Verkündung der EU-Strafe.
Grund für die Strafe war eine Beschwerde des österreichischen Datenschutzaktivisten Max Schrems, der über zehn Jahre lang immer wieder Konsequenzen aus den Snowden-Enthüllungen gefordert hatte und dabei bis zum Europäischen Gerichtshof gezogen war. Im Jahr 2020 hat dieser die Übereinkunft „Privacy Shields“ zwischen den USA und der EU zur Datenübertragung für ungültig erklärt. Im März vergangenen Jahres haben sich die EU und die USA grundsätzlich auf ein neues Datenschutzabkommen verständigt, das die Weitergabe persönlicher Daten an US-Digitalkonzerne regelt – zu denen die US-Geheimdienste praktisch freien Zugang haben, wie wir dank Snowden wissen. In Kraft getreten ist die neue Vereinbarung noch nicht.
Snowden riskierte damals alles, um das System der Massenüberwachung durch die US-Regierung aufzudecken. Der Datenspezialist mit „Top Secret“-Freigabe deckte mithilfe der Journalisten Glenn Greenwald und Ewen MacAskill sowie der Dokumentarfilmerin Laura Poitras auf, dass und wie die US-Regierung heimlich das Ziel verfolgt, jeden Anruf, jede SMS und jede E-Mail zu überwachen.
Mit seinen Enthüllungen über die ungeheuren Massenüberwachungsprogramme der US-Geheimdienste und ihres britischen Pendants GCHQ im Jahr 2013 wurde Snowden der bekannteste und bedeutendste Whistleblower unserer Zeit und zum Gewissen des Internets. Regelmäßig erinnert er daran, dass der in Britannien inhaftierte Journalist und Wikileaks-Gründer Julian Assange, dem wegen der Enthüllung von US-Kriegsverbrechen eine Auslieferung an die USA und dort Haft bis zum Tod drohen, ein politischer Gefangener ist. Auf Twitter mischt er sich mit politisch klugen und präzisen Gedanken in die politischen Debatten ein und erreicht dort 5,8 Millionen Follower.
Die Dokumentarfilmerin Poitras und die Journalisten Greenwald und MacAskill waren im Juni 2013 nach Hongkong geflogen, um sich mit einem ominösen Whistleblower im Hotel „Citizen Four“ zu treffen.
Über die „Washington Post“ und den britischen „Guardian“ wurden die ersten Enthüllungsgeschichten über die dunkle Seite der Macht lanciert. „PRISM“ heißt demnach das seit 2005 existierende und als „Top Secret“ eingestufte NSA-Programm zur Überwachung und Auswertung elektronischer Medien und elektronisch gespeicherter Daten. Die Abkürzung steht für „Planning Tool for Resource Integration, Synchronization and Management“, etwa „Planungswerkzeug für Quellenintegration, -synchronisierung und -management“. An dem Programm sind einige der größten Internetkonzerne und Dienste der USA beteiligt: Microsoft (unter anderem mit Skype), Google (unter anderem mit YouTube), Yahoo, Apple, AOL, Paltalk und das mit der oben erwähnten EU-Strafzahlung belegte Social-Media-Tool Facebook. Den Schilderungen zufolge ermöglicht PRISM eine umfassende Überwachung von Personen inner- wie außerhalb der USA, die digital kommunizieren. Die US-Sicherheitsbehörden haben dabei Zugriff auf live geführte Kommunikation und gespeicherte Informationen bei den beteiligten Internetkonzernen.
„Tempora“ lautet der Codename eines Überwachungsprogramms des britischen Geheimdienstes und NSA-Partners GCHQ zur Überwachung und Ausspionierung des weltweiten Telekommunikations- und Internet-Datenverkehrs. Durch Datenabgriff direkt an den Unterseekabeln können die Geheimdienste auf 40 Milliarden einzelne Inhaltsdaten pro Tag zugreifen – in Echtzeit, Stand 2012.
Teil der globalen Überwachung ist auch das IT-Programm XKeyscore, kurs XKS. Es handelt sich dabei um eine Art Analyse-Software, mit der die von der NSA erstellten Datenbanken durchsucht werden können, um Berichte über das Kommunikationsverhalten einer Person zu erstellen. XKS kann unter anderem auf Telefonnummern und E-Mail-Adressen zugreifen, aber auch Begriffe auflisten, die jemand in die Google-Suche eingegeben hat. Durch die XKeyscore-Veröffentlichungen war erstmals eine Beteiligung Australiens und Neuseelands an der globalen US-Spionage offenkundig geworden, die zusammen mit den USA, Kanada und Britannien als „Five Eyes“ bekannt sind. In Deutschland wird XKeyscore vom BND und vom Bundesamt für Verfassungsschutz eingesetzt.
Snowden hat mit seinen mutigen Enthüllungen eine Ahnung davon vermittelt, wie unfassbar gigantisch die Möglichkeiten der globalen Überwachung durch die US-Nachrichtendienste sind.
Vor diesem Hintergrund ist es geradezu absurd, wenn BND-Chef Bruno Kahl etwa erklärt, es werde keine schnelle Aufklärung der Terroranschläge auf die Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee geben. Es gebe „Hinweise in alle Richtungen“, sagte der Chef der deutschen Auslandsaufklärung in der vergangenen Woche bei einer Veranstaltung der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) in Berlin. „Kein Land dieser Welt, kein Nachrichtendienst dieser Welt ist im Moment in der Lage, das konkret zu attribuieren“, also zu sagen, wer die Täter waren oder wen man ausschließen könne. Zumindest die US-Dienste hätten allerdings die Möglichkeit, Deutschland bei der Aufklärung des Anschlags auf die europäische Energieinfrastruktur zu helfen – wenn sie es denn wollten und nicht selbst verstrickt wären.
Nach den Anfang Februar veröffentlichten Recherchen des US-amerikanischen Investigativreporters und Pulitzer-Preisträgers Seymour Hersh war die Nord-Stream-Zerstörung am 26. September 2022 ein lang vorbereitetes Terrorvorhaben – auf Befehl von Präsident Joseph Biden. Hershs detaillierter Bericht enthält bereits Dementis aus dem Weißen Haus, das als Reaktion auf seine Enthüllungen erklärte: „Das ist falsch und völlig frei erfunden.“ Die Mainstreampresse betete die Dementis nach und tat die Hersh-Recherchen als krude Verschwörungstheorie ab.
Snowden hat Hershs Artikel nicht nur auf Twitter geteilt und damit bei der globalen Verbreitung der Informationen geholfen. Zu den kläglichen Dementis der US-Regierung schreibt der Whistleblower ironisch: „Fällt Ihnen ein Beispiel aus der Geschichte ein, bei dem das Weiße Haus für eine geheime Operation verantwortlich war, dies aber vehement bestritten hat? Vielleicht jener kleine Aufreger über den massenhaften Lauschangriff?“
Edward Snowden bleibt der Aufklärung verpflichtet. Am 21. Juni feiert er seinen 40. Geburtstag. In Freiheit. Mit seiner Familie. In Moskau, wo er politisches Asyl gefunden hat, das ihm jedes andere europäische Land verweigerte.