Die Legende vom Dolchstoß war lange out – dass die Revolutionäre von 1918 die im Felde unbesiegten Vaterlandsverteidiger verraten hätten, war zu offensichtliche Militaristenpropaganda. Zum 100. Jahrestag präsentiert die FAZ eine Art „Dolchstoßlegende light“: Zwar hätte Deutschland den Krieg auch ohne Revolution verloren. Aber die Oberste Heeresleitung habe, so Martin Eich in der Ausgabe vom 3. November, einen wunderbaren militärischen Plan gehabt, um mit dem Auslaufen der Fotte gegen die britische Royal Navy einen besseren Friedensvertrag zu erzwingen. Der Autor bedauert, dass der verhetzte Proletenpöbel in Matrosenkluft dafür einfach nicht sein Leben riskieren wollte. Und: Die Matrosen wollten den Sozialismus, die Volksmarinedivision schützte sogar den Gründungsparteitag der KPD. Im Gegensatz zu den Noske-Mördern seien die Aufständischen also überhaupt keine Demokraten gewesen: So sehen Geschichtsdebatten in Zeiten der Rechtsentwicklung aus.
Bereits früh in diesem Jahr befasste sich die „Bild“ (online am 29. April) mit der Ausstellung zur Novemberrevolution im Museum für Hamburgische Geschichte. Verzaubert zeigen sie ein Maschinengewehr, Fotos von Lauffenberg (dem linksradikalen Vorsitzenden des Hamburger Arbeiter-und-Soldaten-Rates) und welche vom Korps Lettow-Vorbeck. Revolutionäre und Konterrevolutionäre, Waffen und Friedenskämpfer wild durcheinander. Ein großes Spektakel. Eine weitere Linie bürgerlicher Geschichtsdeutung: Vorbei, erledigt, ohne Bedeutung für uns und für heute.
Diese Richtung hat auch ihren akademischen Ableger. Zum Beispiel in der „Zeit“: Dort beschreibt Volker Ullrich die Revolution in Hamburg (4. November) und den Januarstreik auf den Hamburger Werften (25. Januar). Die Fakten beschreibt er korrekt, die rechte Geschichtsfälschung trägt er nicht mit, Schlussfolgerungen für heute gibt es aber nicht zu ziehen.
Die zieht dafür Hedwig Richter, ebenfalls in der „Zeit“. Sie singt das alte Lied: Revolutionen hätten in der Geschichte nur Diktatur und Autoritarismus hervorgebracht, mit historischen Belegen hält sie sich nicht auf. Das Frauenwahlrecht sei von der Regierung geschenkt, nicht von den Sozialistinnen erkämpft worden, selbst die bürgerlichen Suffragetten sind ihr zu radikal. Statt revolutionäres Chaos zu verursachen, hätten die Leute lieber um Reformen bitten sollen – die Regierung und die „intellektuellen Eliten“. Wen die Frau Professorin der Hamburger Uni damit wohl meint?
Die „taz“ titelt am 9. November mit einem Freudenfeuerwerk: „Danke, 1918“. Das Grünen-nahe Kampfblatt dankt für „Frank-Walter I. statt Wilhelm II.“, für parlamentarische Demokratie und Sozialpartnerschaft. Prädikat: Konsequent. Der angekommene Bildungsbürger erinnert sich gerne an vergangene Rebellion. Vielleicht wollten die revolutionären Arbeiter und Soldaten mehr, als mit einem Parlament und ein paar Wochenstunden kapitalistischer Ausbeutung weniger abgespeist zu werden – aber nur, weil sie sich von linken Extremisten verwirren ließen. Die Novemberrevolution sei die „Geburtsstunde unserer Demokratie“ – das ist das Bild des bürgerlichen Mainstreams. Denn darum geht es eigentlich: Schließlich leben wir in der besten aller Welten. Der Terror der Konterrevolution und der Mord an Liebknecht und Luxemburg kann im linksliberalen Freudentaumel vergessen werden – genauso wie das Wissen darum, dass es eine Zukunft jenseits von Parlamentstheater und tariflich geregelter Ausbeutung geben kann.